»Auch ich bin eine Frau, Hagen von Tronje. Und auch unsere Wege haben sich gekreuzt.«
»Ich frage dich noch einmal, Alte«, sagte er leise und eindringlich. »Wer bist du? Du hast keine Ziege, die dir entlaufen ist. Du...« Sein Blick streifte das einsame Bett. »Du hast auch keine Tochter! Wer bist du? Was willst du von mir?«
Die grauen Augen der Alten hielten seinem Blick stand, und schließlich - wie schon einmal - war er es, der nachgab.
»Ich bin fertig«, sagte die Alte in einem Ton, der verriet, daß sie nicht die Absicht hatte, die Frage zu beantworten.
Hagen senkte den Blick und stellte überrascht fest, daß ein sauberer weißer Verband um seine Hand lag, fest gespannt und doch so, daß er ihn kaum spürte. Er hatte nicht einmal gemerkt, wie sie ihn angelegt hatte. »Schone die Hand ein paar Tage. Und nimm den Verband erst ab, wenn die Wunde ordentlich verheilt ist. Ein Mann in deinen Jahren darf nicht mehr leichtfertig mit derlei Verletzungen umgehen.« Die Alte stand auf, schlurfte zur Tür und öffnete sie. Hagen blinzelte, als helles Tageslicht in den Raum flutete, begleitet von einem Schwall eisiger Kälte und dem Geruch des Nebels, der näher an das Haus herangekrochen war, während er sich hier drinnen aufgehalten hatte. Stumm und fast als gehorche er nicht seinem eigenen Willen, stand er auf, legte Handschuh und Helm wieder an und trat an der Alten vorbei aus dem Haus.
»Geht jetzt«, sagte sie, als er zögerte und sich noch einmal umwenden wollte. »Eure Gefährten warten, und Worms ist nicht mehr weit. Aber denkt an meine Worte: Es wird eine Frau sein, die Euch den Untergang bringt, Hagen von Tronje.«
Hagen entfernte sich mit schnellen Schritten vom Haus und ging auf den Waldrand zu. Kurz davor blieb er noch einmal stehen und blickte zurück. Aber die Hütte war bereits im Nebel verschwunden.
2
Der Rückweg erschien ihm kürzer als der Hinweg am Morgen. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit hatte er währenddessen kaum auf seine Umgebung geachtet, sondern sich ganz Helges Führung überlassen, und er erkannte den Wald, durch den er jetzt ging, nicht wieder: Der Nebel hatte sich gelichtet und war bald darauf ganz verschwunden, und im hellen Sonnenlicht sah der Wald vollkommen anders aus als der, durch den ihn das Mädchen geleitet hatte. Er hatte viel von seiner Bedrohlichkeit und alles von seiner Unwirklichkeit verloren, und als Hagen schließlich aus dem Wald heraustrat und die sumpfige Wiese mit dem Bach und dem einsamen Baum vor ihm lag, kam es ihm beinah lächerlich vor, daß jene kahlen Bäume und Sträucher wirklich Furcht in ihm ausgelöst haben sollten, ein Gefühl, das ihm bisher vollkommen fremd war. Und doch: ein eigentümliches, dumpfes Unbehagen war geblieben, es stellte sich sofort wieder ein, als er an das Haus und an die Alte und ihre Prophezeiung zurückdachte.
Es wird eine Frau sein, die Euch den Untergang bringt, Hagen von Tronje. Er vermeinte wieder die Stimme der Alten zu hören, so deutlich, daß er versucht war, stehenzubleiben und sich umzublicken, ob sie ihm etwa nachgekommen war, um ihre Warnung zu wiederholen. Statt dessen ging er schneller, überquerte die Wiese mit entschlossenen Schritten. Trotz der Entfernung konnte er das Rauschen des Flusses jetzt deutlich hören, und als er weiterging, gewahrte er hoch oben in der Luft, jenseits des Hügels, aber noch nicht über dem Fluß, einen kleinen schwarzen Punkt. Eine Krähe, dachte er, oder ein Rabe. Auf jeden Fall ein Unglücksvogel. Hagen blieb stehen, blickte dem Vogel eine Weile sinnend nach und runzelte die Stirn. Dann schüttelte er den Kopf, wie um die unheilvollen Gedanken abzuschütteln. Hagen von Tronje, dachte er und verzog spöttisch die Lippen. Wenn sie dich jetzt sehen könnten, am Hofe zu Worms! Er zog den Mantel enger um die Schultern und ging rasch mit weit ausgreifenden, federnden Schritten den Hang hinauf. Als er den Kamm des Hügels erreicht hatte, war er äußerlich wieder so gefaßt und ruhig, wie ihn die Männer kannten.
Das Ufer lag unter ihm, als wäre keine Zeit vergangen. Die Wellen, die mit leisem Rauschen nordwärts und dem Ozean zustrebten, schienen die gleichen zu sein, die er beobachtet hatte, als er aufgebrochen war, und selbst die Männer und Tiere schienen sich kaum bewegt zu haben; als hätte er nur die Augen einen Moment geschlossen und gleich wieder geöffnet. Die Männer waren alle aus den Sätteln gestiegen. Ein paar von ihnen hatten sich im feuchten Gras der Uferböschung oder einfach im Sand ausgestreckt, um auszuruhen und ein wenig von den Kräften zurückzugewinnen, die die durchrittene Nacht aufgezehrt hatte; die anderen - unter ihnen Grimward - saßen in einem lockeren Kreis ein Stück flußabwärts am Ufer, redeten oder dösten mit offenen Augen vor sich hin. Niemand hatte bisher seinen Befehl befolgt, die Pferde zu versorgen oder sich selbst zu reinigen und frische Kleider anzulegen. Aber sein Ärger verflog, wie er gekommen war. Die Männer hatten ihr Äußerstes gegeben, und er wußte, sie würden noch mehr geben, wenn er es verlangte. Ein Wort, eine Geste von ihm genügte, und sie würden auf ihre Tiere steigen und reiten, bis sie tot in den Sätteln zusammenbrachen. Aber er kannte auch ihre Grenzen und die seinen. Er stand in dem Ruf, ein harter und unbarmherziger Mann zu sein, aber das stimmte nur zum Teil. Hart war er zu seinen Männern. Unbarmherzig war er nur zu sich selbst.
Einer der Männer bemerkte ihn und machte die anderen mit einem halblauten Ruf aufmerksam. Eine verhaltene, dennoch deutlich spürbare Unruhe ergriff den lockeren Kreis vornübergebeugt dahockender Gestalten; einige standen auf, andere bewegten nur Hände und Köpfe, als wären sie zu schwach, sich zu erheben.
Grimward erhob sich und ging Hagen entgegen, als dieser den Hügel herunterkam. Auf den braungebrannten Zügen des Langobarden zeichnete sich Erleichterung ab.
»Du warst lange weg«, sagte er ohne Einleitung. »Ich war schon in Sorge um dich.«
Hagen wich seinem Blick aus. »Ich bin ein wenig umhergegangen«, sagte er. »Um nachzudenken.« Er hoffte, daß Grimward sich mit dieser Erklärung zufriedengeben würde, wenngleich sie wenig überzeugend klang. Es war viel Zeit vergangen, seit er sich vom Lagerplatz entfernt hatte. Aber es widerstrebte ihm, von jener sonderbaren Begegnung zu berichten. »Sattelt die Pferde«, fuhr er mit veränderter Stimme fort, ehe Grimward Gelegenheit hatte, weitere Fragen zu stellen. »Wir reiten.«
»Wie wir sind?« fragte Grimward überrascht. »Die Tiere sind noch nicht versorgt, und ...«»Wie wir sind«, bestätigte Hagen. »Ich habe meine Pläne geändert.« Er hoffte, daß Grimward die Unsicherheit in seiner Stimme nicht bemerkte. Ein seltsames, beklemmendes Gefühl stieg in ihm hoch, und diesmal erkannte er, daß es Angst war. Er spürte, wie seine Handflächen in den schweren Handschuhen feucht wurden, und die Furcht schnürte ihm die Kehle zu, so daß er kein Wort mehr herausbrachte. Mit einer abrupten Bewegung wandte er sich ab, ging an Grimward vorbei den Hang hinunter und eilte zu seinem Pferd.
Das Tier stand am Fluß und trank. Sein Atem hatte sich beruhigt, aber sein Schwanz peitschte noch immer nervös, und sein Fell war jetzt, nachdem der flockige weiße Schweiß eingetrocknet war, glanzlos und stumpf; die unzähligen kleinen Kratzer und Schratte auf seinem ehemals makellosen Fell sahen aus wie schwärende Pockennarben, und es roch schlecht nach Erschöpfung und Krankheit Hagen blieb einen Moment neben dem Tier stehen, tätschelte seinen Hals und warf einen besorgten Blick in die Runde. Sein Pferd war nicht das einzige, das nahe am Zusammenbrechen war, und um die Reiter stand es kaum besser. Die Männer waren gehorsam aufgestanden und begannen ihre Habseligkeiten und Waffen zusammenzusuchen, aber in ihren Gesichtern war eine tiefe Müdigkeit die schlimmer war als bloße Erschöpfung.