Wir fuhren zunächst zu dem kleinen Landhotel, von dem mir mal jemand erzählt hatte. Es lag hoch über der Schlucht des Avon und war in seinem Komfort den Bedürfnissen wohlhabender amerikanischer Touristen angepaßt.
«Da kommen wir doch nie und nimmer rein«, sagte Louise, als sie seiner ansichtig wurde.
«Ich hab angerufen.«
«Wie überaus umsichtig! Ein oder zwei Zimmer?«
«Eins.«
Sie lächelte, als ob ihr das durchaus recht sei, und man führte uns in ein großes, holzgetäfeltes Zimmer mit großen Perserteppichen, antiken Möbeln und einem weißen Himmelbett, das oben — amerikanischem Stil entsprechend — eine Einfassung aus gekräuseltem Musselin hatte.
«Mein Gott!«sagte Louise.»Und ich hatte ein Motel erwartet!«
«Von dem Himmelbett habe ich nichts gewußt«, sagte ich ein bißchen lahm.
«Wow!«sagte sie und lachte.»Das hier ist jedenfalls sehr viel lustiger.«
Wir stellten unsere Reisetaschen ab, machten uns in dem modern ausgestatteten, diskret hinter der Holztäfelung verborgenen Bad frisch und kehrten zum Auto zurück — und Louise lächelte den ganzen Weg bis zur neuen Wohnung von Nicholas Ashe still vor sich hin.
Es war ein wohlhabend aussehendes Haus in einer wohlhabend aussehenden Straße. Eine grundsolide Angelegenheit mit fünf oder sechs Schlafzimmern, stand es gediegen und weiß gestrichen und wenig aufschlußreich in der frühen Abendsonne.
Ich hielt ziemlich dicht davor an einer Stelle an, von der aus wir sowohl die Haustür als auch die Garageneinfahrt überblicken konnten. Louise hatte mir berichtet, daß Nik-ky oft gegen sieben nach einem harten Arbeitstag an der Schreibmaschine einen Spaziergang machte. Vielleicht tat er das heute auch — wenn er überhaupt da war.
Vielleicht auch nicht.
Weil es so warm war, hatten wir die Seitenfenster heruntergekurbelt. Ich steckte mir eine Zigarette an, und der Rauch blieb fast unbewegt in der Luft stehen, da keinerlei Wind wehte. Sehr friedlich, da so zu warten, dachte ich.
«Wo kommst du eigentlich her?«fragte Louise.
Ich blies einen Rauchring.»Ich bin der posthume, illegitime Sohn eines zwanzigjährigen Fensterputzers, der unmittelbar vor der Hochzeit von seiner Leiter fiel.«
Sie lachte.»Sehr elegant formuliert.«
«Und du?«
«Die eheliche Tochter des Managers einer Glasfabrik und einer Stadträtin, beide noch am Leben und in Essex wohnhaft.«
Wir befragten uns nach etwaigen Geschwistern — ich hatte keine, sie zwei, einen Bruder und eine Schwester. Nach unserer Ausbildung, wovon ich ein bißchen und sie eine ganze Menge vorzuweisen hatte. Nach dem Leben im allgemeinen, wovon sie ein wenig und ich etwas mehr gesehen hatte.
Eine Stunde verstrich in der stillen Straße. Ein paar Vö-gel sangen. Gelegentlich fuhren Autos vorbei. Männer kamen von der Arbeit und bogen in die Einfahrten ihrer Häuser ein. In der Ferne wurden Türen zugeschlagen. Nichts rührte sich bei dem Haus, das wir beobachteten.
«Du bist sehr geduldig«, sagte Louise.
«Ich habe schon Stunden damit zugebracht, manchmal.«
«Ganz schön fad.«
Ich sah in ihre klaren, intelligenten Augen.»Nicht heute abend.«
Es wurde sieben, wurde später — aber kein Nicky erschien.
«Wie lange bleiben wir?«
«Bis es dunkel ist.«
«Ich habe Hunger.«
Eine weitere halbe Stunde verging. Ich erfuhr, daß sie gern Curry aß und Paella, Rhabarber aber verabscheute. Ich erfuhr auch, daß ihr die Doktorarbeit, an der sie schrieb, schwer zu schaffen machte.
«Ich liege so weit hinter dem Plan zurück«, sagte sie,»und… ach du liebe Güte, da ist er ja!«
Sie hatte die Augen weit aufgerissen. Ich folgte ihrem Blick und sah Nicholas Ashe.
Er kam nicht aus der Haustür, sondern von der Seite des Gebäudes. Mein Alter, vielleicht etwas jünger. Größer, aber von meiner schlanken Statur. Meine Farben — dunkles Haar, leicht gelockt, dunkle Augen. Schmale Kinnpartie. Alles gleich.
Er sah mir jedenfalls ähnlich genug, daß es mich wie ein Schock traf, war aber zugleich auch ganz anders. Ich zog meine Minikamera aus der Tasche, spannte sie wie üblich mit den Zähnen und machte ein Foto von ihm.
Als er die Pforte erreicht hatte, blieb er stehen und sah zurück zum Haus. Von dort kam eine Frau gerannt und rief:»Ned, Ned, so warte doch auf mich.«
«Ned!«sagte Louise und rutschte tiefer in ihren Sitz.»Wird er mich nicht sehen, wenn er hier vorbeikommt?«
«Nicht, wenn ich dich küsse.«
«Na gut, dann tu’s«, sagte sie. Ich machte jedoch erst noch eine Aufnahme. Die Frau sah älter aus, um die vierzig. Schlank, gutaussehend, erregt. Sie schob ihren Arm in den seinen und sah ihn an — mit anbetendem Blick, wie selbst aus einer Entfernung von etlichen Metern deutlich zu erkennen war. Er schaute zu ihr hinab und lachte fröhlich, dann küßte er sie auf die Stirn, schwenkte sie in einem kleinen Bogen herum und hinaus auf den Bürgersteig, legte ihr den Arm um die Taille und kam dann sehr gutgelaunt und mit leicht hüpfendem Schritt auf uns zugegangen.
Ich riskierte aus dem Schatten des Wageninneren heraus noch eine Aufnahme, beugte mich dann zu Louise hinüber und küßte sie voller Enthusiasmus.
Die beiden gingen draußen vorbei. Auf unserer Höhe angelangt, mußten sie uns — oder zumindest meinen Rük-ken — entdeckt haben, denn beide kicherten plötzlich fröhlich los, Liebende, die ihr Geheimnis mit anderen Liebenden teilten. Sie wären fast stehengeblieben, gingen dann aber doch weiter, und ihre Schritte wurden immer leiser, bis sie nicht mehr zu hören waren Ich setzte mich widerwillig auf.
Louise sagte:»Wow!«, aber ob sich das auf den Kuß bezog oder auf die Nähe von Ashe, war mir nicht ganz klar.
«Er ist völlig unverändert«, sagte sie dann.
«Casanova höchstpersönlich«, bemerkte ich trocken.
Sie warf mir einen schnellen Blick zu, und ich erriet, daß sie sich die Frage stellte, ob ich wohl auf seinen Erfolg bei Jenny eifersüchtig war. Ich dagegen fragte mich, ob sich Jenny wohl deshalb zu ihm hingezogen gefühlt hatte, weil er mir so ähnlich war, oder ob sie erst von mir und dann von ihm angezogen worden war, weil wir beide ihrem Bild von einem sexuell attraktiven männlichen Wesen entsprachen. Sein Äußeres beunruhigte mich stärker, als mir lieb war.
«Na gut«, sagte ich,»das wär's erst einmal. Suchen wir uns was zu essen.«
Ich fuhr zum Hotel zurück, und wir gingen vor dem Essen noch mal hinauf aufs Zimmer, weil Louise meinte, sie habe ihren Rock und die Bluse schon den ganzen Tag an und wolle sich gern noch umziehen.
Ich nahm das Ladegerät aus meiner Reisetasche und stöpselte es ein. Dann holte ich eine leere Batterie aus meiner Jackentasche, rollte den Hemdsärmel hoch, nahm die in meinem Arm befindliche aus ihrer Halterung und steckte beide in das Ladegerät. Schließlich holte ich eine aufgeladene Batterie aus der Reisetasche und schob sie in die leere Halterung im Arm. Und Louise sah mir zu.
«Ist das… abstoßend für dich?«fragte ich sie.
«Nein, natürlich nicht.«
Ich zog den Ärmel wieder herunter und knöpfte die Manschette zu.
«Wie lange reicht so eine Batterie?«wollte sie wissen.
«Bei starker Beanspruchung sechs Stunden. Normalerweise etwa acht.«
Sie nickte bloß mit dem Kopf, als ob Leute mit elektrischen Armen so alltäglich wären wie Leute mit blauen Augen. Wir gingen zum Essen hinunter, wählten Seezunge und zum Nachtisch Erdbeeren, und wenn sie nach Meeresalgen geschmeckt hätten, wäre es mir auch egal gewesen. Das lag nicht nur an Louise, sondern auch daran, daß ich seit dem Morgen dieses Tages damit aufgehört hatte, mich selbst zu zerfleischen, und langsam wieder zu innerem Frieden fand. Ich konnte es regelrecht spüren, und es war wunderbar.