«Steh auf«, drängte ich.»Wir können hier abhauen, du mußt es nur versuchen.«
«Sid…«
«Ja«, sagte ich.»Los, komm.«
«Laß mich, ich kann nicht.«
«Und wie du kannst, verdammt noch mal. Du brauchst bloß zu sagen >Hol der Geier diese Schweine<, und schon geht’s ganz leicht.«
Es ging schwerer, als ich gedacht hatte, aber dann schaffte ich es doch, ihn halb hochzukriegen und ihm den Arm um die Taille zu legen. So schwankten wir auf einem Zickzackkurs zur Tür wie ein besoffenes Liebespaar.
Dann durch die Tür und zum Landrover. Kein wütender, unsere Entdeckung signalisierender Schrei vom Haus her
— und da das Wohnzimmer auf der anderen Seite des Gebäudes lag, würden sie, wenn wir Glück hatten, nicht mal das Anlassen des Motors hören.
Ich schob und stieß Chico auf den Beifahrersitz, schloß die Wagentür neben ihm möglichst leise und ging dann um das Auto herum zur Fahrerseite.
Der Landrover, dachte ich mißmutig, war was für Linkshänder — alle Bedienungselemente mit Ausnahme des Blinkerhebels befanden sich auf dieser Seite. Und ob es nun daran lag, daß ich noch zu schwach oder die Batterie leer oder der Mechanismus der Hand beschädigt worden war, weil ich sie als Schlagstock benutzt hatte — die Finger meiner linken Hand ließen sich kaum noch bewegen. Ich fluchte vor mich hin und machte alles mit der Rechten, was ziemliche Verrenkungen erforderte und sehr weh getan hätte, wenn ich es nicht so eilig gehabt hätte.
Ich ließ den Motor an. Löste die Handbremse. Legte den ersten Gang ein. Erledigte dankbar alles übrige mit den Füßen und fuhr los. Nicht gerade ein sanftes Anfahren, aber immerhin. Der Landrover rollte zum Tor, und wir fuhren hinaus. Ganz instinktiv bog ich in die Richtung ab, die von London weg führte, weil eine innere Stimme mir sagte, daß sie uns, wenn sie unser Verschwinden bemerkten und sich an die Verfolgung machten, wohl eher auf dem Weg in die Stadt vermuten würden.
Die» Hol der Geier diese Schweine«-Haltung hielt sich zwei, drei Meilen und ein paar knifflige, einhändige Gangwechsel lang, erlitt jedoch einen ernsten Rückschlag, als ich auf die Tankanzeige blickte und feststellen mußte, daß der Zeiger schon fast bei Null stand.
Die Frage, wohin wir denn nun fahren sollten, mußte also geklärt werden, und zwar sofort. Aber bevor ich mich entschieden hatte, kamen wir um eine Kurve und hatten eine Tankstelle vor uns, die noch geöffnet war. Meinen Augen kaum trauend, bog ich in die Einfahrt und brachte unser Gefährt ruckend vor einer der Zapfsäulen zum Stehen.
Geld in der rechten Hosentasche, zusammen mit meinen Autoschlüsseln und einem Taschentuch. Ich zog alles hervor und bündelte die zerknitterten Geldscheine. Öffnete das Seitenfenster, gab sie dem Tankwart, der herangetreten war, und sagte, daß ich dafür Benzin haben wolle.
Der Tankwart war sehr jung, noch im Schulalter, und sah mich neugierig an.
«Alles in Ordnung?«fragte er.
«Es ist sehr heiß«, sagte ich und wischte mir mit dem Taschentuch das Gesicht ab. Ein paar Sägespäne fielen mir aus den Haaren. Ich mußte wohl wirklich ein bißchen seltsam aussehen.
Der Junge nickte jedoch nur und steckte die Zapfpistole in den Einfüllstutzen des Landrovers, der sich direkt hinter der Fahrertür befand. Er sah an mir vorbei zu Chico hinüber, der mehr lag als saß, die Augen jetzt offen.
«Was fehlt denn dem?«
«Betrunken«, sagte ich.
Der Junge sah mich an, als dächte er, daß wir das wohl beide seien, aber er sagte nichts mehr, schraubte, als er mit Benzineinfüllen fertig war, die Kappe auf den Einfüllstutzen und wandte sich dem nächsten Kunden zu. Ich absolvierte einmal mehr meinen etwas mühsamen Rechtshänderstart und fuhr wieder auf die Straße hinaus. Nach etwa einer Meile bog ich in eine Nebenstraße ab, brachte ein paar Kurven hinter mich und hielt an.
«Was ist?«fragte Chico.
Ich sah ihm in die noch immer benommen blickenden Augen. Muß entscheiden, wohin wir fahren sollen, dachte ich. Ich mußte es für Chico entscheiden, denn was mich anbetraf, wußte ich es schon. Ich hatte mich entschieden, nachdem ich festgestellt hatte, daß ich den Landrover bewegen konnte, ohne dauernd irgendwas um- oder anzufahren, als sich bei der Tankstelle, die dankenswerterweise aufgetaucht war, ergeben hatte, daß ich genug Geld für Benzin dabei hatte, und als ich den Jungen nicht gebeten hatte, Hilfe in Gestalt von Polizisten und Ärzten herbeizuholen.
Krankenhäuser und Bürokratie und Fragen und Herumgeschubstwerden — das alles waren Dinge, die mir überaus verhaßt waren. Ich würde mich dem nicht aussetzen, wenn es nicht um Chicos willen sein mußte.
«Wo waren wir heute?«fragte ich ihn.
Nach einer Weile antwortete er:»Newmarket.«:
«Wieviel ist zwei mal acht?«
Schweigen. Dann:»Sechzehn.«
Ich saß da, empfand so etwas wie matte Dankbarkeit angesichts seines langsam wieder arbeitenden Verstandes und sammelte Kräfte. Der Schwung, der mich in den Landrover und bis zu dieser Stelle befördert hatte, war dahin und hatte ein Vakuum hinterlassen, in das Feuer und Kraftlosigkeit zurückgeströmt waren. Ich würde, dachte ich, weitermachen können, wenn ich mir nur ein bißchen Zeit ließ. Stehvermögen und Energie waren Schwankungen unterworfen, und was man im einen Augenblick nicht schaffte, schaffte man im nächsten.
«Ich brenne«, sagte Chico.
«Mm.«
«Das war zuviel.«
Ich sagte nichts. Er bewegte sich, versuchte, sich in seinem Sitz aufzurichten, und ich sah an seinem Gesicht, daß ganz plötzlich die Erinnerung an das Geschehene wieder da war. Er schloß die Augen und sagte:»Mein Gott!«-und nach einer Weile sah er mich mit zusammengekniffenen Augen an und fragte:»Du auch?«
«Mm.«
Der lange, heiße Tag versank langsam in der Abenddämmerung. Wenn ich mich nicht aufraffte, dachte ich, würde ich nirgendwo mehr hinkommen.
Die Hauptschwierigkeit war nach wie vor, daß es sehr riskant, wenn nicht sogar höchst gefährlich war, einen Landrover mit nur einer Hand zu fahren, denn ich mußte bei jedem Gangwechsel das Steuerrad loslassen und mit der rechten Hand nach links greifen, um den Ganghebel zu betätigen. Dieses Problem ließ sich nur lösen, wenn es mir gelang, wenigstens einmal noch den oben am Schalthebel sitzenden Knopf mit den Fingern der linken Hand fest zu umfassen, denn dann konnte ich den Strom abschalten, und die Hand würde dort liegenbleiben, bis sie neue Instruktionen erhielt.
Ich versuchte es — und mit Erfolg. Dann ließ ich den Motor an und schaltete das Abblendlicht ein. Wenn ich bloß etwas Trinkbares hätte, dachte ich, und startete zu der langen Heimreise.
«Wohin fahren wir?«erkundigte sich Chico.
«Zum Admiral.«
Ich wählte die südliche Route über Sevenoakes, Kingston und Colnbrook, dann ein Stück über die M4 bis zum Autobahnkreuz Maidenhead und weiter auf der M40 bis nördlich von Marlow und auf der Ringstraße im Norden um Oxford herum. Und dann die letzte Etappe bis Aynsford.
Landrover werden nicht um des Fahrkomforts willen gebaut und schütteln folglich ihre Insassen gehörig durch. Chico stöhnte immer wieder auf, fluchte und schwor, sich nie wieder in so einen Schlamassel hineinziehen zu lassen. Schwäche und Übelkeit zwangen mich zweimal anzuhalten, aber es war nicht viel Verkehr, und so erreichten wir das Haus von Charles schon nach dreieinhalb Stunden — unter den gegebenen Umständen keine schlechte Zeit.
Ich schaltete den Motor ab und meine linke Hand an, konnte aber meine Finger trotzdem nicht bewegen. Das fehlte gerade noch, dachte ich verzweifelt, wäre die letzte, diesen Scheißabend krönende Demütigung, wenn ich mich von meiner Hand losfummeln, den elektrischen Teil von mir am Schalthebel hängen lassen müßte. Warum, warum nur konnte ich nicht zwei Hände haben wie jeder andere Mensch auch?
«Streng dich nicht so an«, sagte Chico,»dann schaffst du’s spielend.«