Ich gab ein Husten von mir, das halb Lachen und halb Schluchzen war, und da öffneten sich die Finger ein klein wenig, und die Hand fiel vom Ganghebel herab.
«Sag ich doch«, murmelte Chico.
Ich legte den rechten Arm auf das Steuer und ließ den Kopf darauf sinken. Ich fühlte mich völlig erschöpft und deprimiert und.. - bestraft. Und irgend jemand mußte sich doch irgendwie dazu aufraffen, ins Haus zu gehen und Charles Bescheid zu sagen, daß wir da waren.
Dieses Problem löste sich dadurch, daß er im Morgenmantel zu uns herauskam, angestrahlt von dem Licht, das aus seiner offenen Haustür strömte. Ich bemerkte ihn aber erst, als er neben dem Landrover stand und durch die Scheibe hereinblickte.
«Sid?«fragte er ungläubig.»Bist du das?«
Ich zwang mich, den Kopf zu heben, die Augen zu öffnen und zu sagen:»Ja.«
«Es ist nach Mitternacht«, sagte er.
Es gelang mir, wenigstens in meine Stimme ein Lächeln zu bringen.»Du hast doch gesagt, ich könnte jederzeit herkommen.«
Eine Stunde später lag Chico oben im Bett, und ich saß ausgestreckt auf dem Goldsofa, barfuß, die Füße hochgelegt, wie so oft.
Charles kam ins Wohnzimmer und berichtete, daß der Arzt mit Chico fertig sei und auf mich warte, aber ich sagte, er solle ihm danken und ihn nach Hause schicken.
«Er gibt dir auch etwas zum Einschlafen, wie Chico.«
«Ja, und genau das ist’s, was ich nicht möchte. Und ich hoffe, daß er sich angesichts von Chicos Gehirnerschütterung mit seinen Medikamenten zurückgehalten hat.«
«Das hast du ihm selbst doch schon sechsmal gesagt, als er kam. «Er machte eine Pause.»Er wartet auf dich.«
«Es ist mir ernst, Charles«, sagte ich.»Ich möchte nachdenken. Ich möchte einfach nur hier sitzen und nachdenken, also sag dem Doktor bitte gute Nacht und geh ins Bett.«
«Nein«, sagte er,»das geht doch nicht.«
«Und ob das geht. Es muß gehen, solange ich mich noch.«
Ich schwieg. Solange ich mich noch so gerupft fühle, dachte ich — aber das konnte man nicht laut sagen.
«Das ist aber ganz und gar nicht vernünftig.«
«Nein. Aber die ganze Geschichte ist nicht vernünftig. Das ist ja der springende Punkt. Deshalb geh bitte und laß mich darüber nachdenken.«
Mir war früher schon aufgefallen, daß man manchmal, wenn man eine Verletzung erlitten hatte, sehr klar denken konnte und der Verstand mit großer Schärfe arbeitete. Diese Zeit durfte man nicht ungenutzt verstreichen lassen, soweit einem daran gelegen war.
«Hast du Chicos Haut gesehen?«bohrte er.
«Oft«, sagte ich schnippisch.
«Ist deine auch in diesem Zustand?«
«Ich hab noch nicht nachgeschaut.«
«Du kannst einen wirklich zur Weißglut treiben.«
«Ja, ja«, sagte ich.»Geh ins Bett.«
Als er gegangen war, saß ich da und erinnerte mich bewußt und lebhaft an die entsetzlichen physischen und psy-chischen Schmerzen, die zu verdrängen ich mich bis zu diesem Augenblick so angestrengt hatte.
Es war zuviel gewesen, wie Chico gesagt hatte.
Zuviel. Warum?
Charles kam um sechs wieder herunter, im Morgenmantel und mit seinem unbewegtesten Gesichtsausdruck.
«Du bist ja immer noch hier«, sagte er.
«Ja.«
«Kaffee?«
«Tee«, sagte ich.
Er ging, machte welchen und kam mit zwei großen, dampfenden Bechern wieder. Er stellte meinen auf ein Tischchen neben dem Sofa und ließ sich dann in seinem Sessel nieder. Die leer blickenden Augen waren nun fest auf mich gerichtet.
«Und?«sagte er.
Ich rieb mir die Stirn.»Wenn du mich ansiehst«, sagte ich zögernd,»ich meine, normalerweise, nicht jetzt. Wenn du mich also anschaust, was siehst du dann?«
«Das weißt du doch.«
«Siehst du dann ein Bündel von Ängsten und Selbstzweifeln, Gefühlen von Scham und Nutzlosigkeit und Unzulänglichkeit?«
«Natürlich nicht. «Er schien die Frage eher amüsant zu finden, nippte an seinem kochendheißen Tee und sagte, nun wieder ernst:»Solche Gefühle zeigst du nie.«
«Niemand tut das«, sagte ich.»Jeder hat seine Außen-und seine Innenseite, und die beiden können sehr verschieden voneinander sein.«
«Ist das eine eher allgemeine Beobachtung?«
«Nein. «Ich nahm den Becher auf und blies über die dampfende Oberfläche des Tees.»Ich bin für mich selbst ein einziger Wust von Unsicherheit und Angst und Dummheit. Für andere dagegen… tja, was Chico und mir gestern abend passiert ist, liegt an dem Bild, das andere von uns haben. «Ich nahm vorsichtig einen Schluck. Wie immer, wenn Charles Tee machte, war er so stark, daß der Löffel drin stand. Ich trank ihn sehr gern so, jedenfalls manchmal. Ich fuhr fort:»Wir haben seit dem Beginn unserer Tätigkeit als Ermittler ziemlich großes Glück gehabt. Anders gesagt, die Jobs waren relativ leicht zu erledigen, was uns den Ruf eingetragen hat, erfolgreich zu sein — und dann ist unser Ruf langsam größer geworden, als durch die Realität gerechtfertigt ist.«
«Die natürlich«, bemerkte Charles trocken,»so aussieht, daß ihr ein paar schwachköpfige Tagediebe seid.«
«Du weißt schon, wie ich es meine.«
«Ja, gewiß. Thomas Ullaston hat mich gestern morgen angerufen. Sagte, es sei wegen des Einsatzes der Stewards in Epsom, aber ich hatte den Eindruck, daß er mir vor allem sagen wollte, was er so über dich denkt. Er meinte, ganz grob zusammengefaßt, daß es schade wäre, wenn du heute noch Jockey wärst.«
«Nein, das wäre einfach großartig«, seufzte ich.
«Da ist nun also gestern jemand über dich und Chico hergefallen, um euch an einem neuerlichen Erfolg zu hindern?«
«Nicht ganz.«
Ich berichtete ihm, zu welchem Ergebnis mich meine Überlegungen der vergangenen Nacht geführt hatten, und sein Tee wurde kalt.
Als ich geendet hatte, saß er eine Weile schweigend da und sah mich mit seiner undurchdringlichsten Miene an.
Dann sagte er:»Das klingt alles ganz danach, als sei der gestrige Abend… entsetzlich gewesen.«
«Nun ja, das war er wohl.«
Wieder Schweigen. Dann:»Und was nun?«
«Ich hab mich gefragt«, sagte ich zaghaft,»ob du heute vielleicht ein, zwei Dinge für mich erledigen könntest, weil ich… äh.«
«Natürlich kann ich das«, sagte er.»Worum geht’s?«
«Heute ist Donnerstag, dein London-Tag. Würde es dir etwas ausmachen, mit dem Landrover statt mit dem Rolls runterzufahren und ihn gegen mein Auto auszutauschen?«
«Wenn du willst«, sagte er und sah mich nicht gerade entzückt an.
«Das Ladegerät liegt da drin, in meiner Reisetasche.«
«Selbstverständlich, wird gemacht.«
«Und könntest du vorher in Oxford noch ein paar Fotos abholen? Auf denen ist Nicholas Ashe drauf.«
«Sid!«
Ich nickte.»Wir haben ihn gefunden. In meinem Wagen liegt auch ein Brief mit seiner neuen Adresse. Ein Bettelbrief, wie gehabt.«
Er schüttelte angesichts der Dummheit von Nicholas Ashe den Kopf.»Noch weitere Aufträge?«
«Ja, tut mir leid, noch zwei. Der eine für London, aber der ist einfach. Der andere dagegen… könntest du auch nach Tunbridge Wells fahren?«
Als ich ihm erklärt hatte, worum es ging, willigte er ein, obwohl es bedeutete, daß er seine Teilnahme an der Vorstandssitzung, die für diesen Nachmittag anberaumt war, absagen mußte.
«Ach ja, und würdest du mir bitte deine Kamera leihen, weil meine auch im Auto liegt… und ein frisches Hemd?«»In dieser Reihenfolge?«
«Ja, bitte.«
Obwohl ich mir wünschte, daß ich mich noch ein paar Jahrtausende lang nicht zu bewegen brauchte, rappelte ich mich wenig später vom Sofa auf und ging mit dem Fotoapparat von Charles nach oben, um Chico einen Besuch abzustatten.
Er lag auf der Seite und starrte mit ebenso trübem wie leerem Blick in den Raum, stand noch unter der nur langsam nachlassenden Wirkung des Schlafmittels. Immerhin war er präsent genug, um matt zu protestieren, als ich ihm eröffnete, daß ich ihn gern fotografieren würde.