Patricia A. McKillip
Harfner im Wind
(Erdzauber 3)
Kap. 1
Der Sternenträger und Rendel von An saßen auf den Zinnen des höchsten der sieben Türme von Anuin. Endlos, wie es schien, ergoß sich der weiße Stein abwärts, hinunter zu dem sommergrünen Hügel, auf dem das gewaltige Hauptgebäude stand. Die Stadt, die am Fuß des Hügels ausgebreitet lag, reichte bis zum Meer. Klar und blau dehnte sich über ihnen der Himmel, dessen Stille nur gele-gentlich vom kreisenden Flug eines Habichts gestört wurde. Zwei Stunden saß Morgon ohne jede Bewegung dort. Die Sonne, die am Morgen sein Profil gestreichelt hatte, war weitergewandert, ohne daß er es merkte, und hatte seinen Schat-ten mitgenommen. Er war sich Rendels Nähe bewußt, doch er empfand sie wie das weite Land rundum, wie den leichten Wind und wie die Krähen, die schimmernde schwarze Linien durch die grünen Obstpflanzungen zogen — als etwas Fried-volles und Fernes, dessen Schönheit hin und wieder in seinen Gedanken aufblitzte.
Sein Geist spann endlose Fäden der Mutmaßung und Überlegung, die sich immer wieder in seiner Unwissenheit verfingen. Sterne, Kinder mit steinernen Gesichtern, die feurigen Scherben einer Schale, die er in Astrins Hütte zerschmettert hatte, untergegangene Städte, ein dunkelhaariger Gestaltwandler, ein Harfner, all diese Erinnerungen verwirrten sich unter seiner forschenden Betrachtung zu Rätseln, für die er keine Lösung finden konnte. Er blickte auf sein eigenes Leben zurück, auf die Geschichte des Reiches und stocherte in den Tatsachen herum wie in einem Haufen Scherben, in dem Bemühen, sie zusammenzusetzen. Nichts paßte; nichts hielt; ständig wurde er aus seinen Erinnerungen in die milde Sommerluft hinausgeschleudert.
Steif wie ein Stein bewegte er sich schließlich und strich sich mit der Hand über die Augen. Unstet flackernde Gestalten wie uralte Geschöpfe ohne Namen huschten hinter seinen Augenlidern ins Licht. Wieder entleerte er seinen Geist, ließ Bilder in sein Bewußtsein emporsteigen, bis sie wiederum an den Klippen des Undenkbaren zerschellten.
Der weite blaue Himmel drängte sich in sein Blickfeld und das Gewirr der Straßen und Häuser tief unter ihm. Er konnte nicht mehr denken; er lehnte sich an seinen Schatten. Die Stille, die in dem uralten Steinquader eingeschlossen lag, durchflutete ihn; seine Gedanken, bis zur Sinnlosigkeit strapaziert, wurden wieder ruhig.
Er bemerkte einen weichen Lederschuh und den Schimmer eines blaßgrünen Gewandes. Er drehte den Kopf und sah, daß Rendel mit gekreuzten Beinen auf dem Sims neben ihm saß.
Er neigte sich zu ihr hinüber und zog sie an sich. Er drückte sein Gesicht in ihr langes Haar, in dem der Wind spielte, und sah hinter seinen geschlossenen Lidern die flammenden Strähnen. Eine Zeitlang schwieg er still und hielt sie ganz fest, als spürte er das Herannahen eines Windes, der sie von ihrem hohen, gefährlichen Ruheplatz herabfegen könnte.
Sie hob das Gesicht, um ihn zu küssen, und widerstrebend ließen seine Arme sie los.
»Mir war gar nicht bewußt, daß du hier bist«, sagte er, als sie ihn sprechen ließ.
»Das habe ich gemerkt, nach der ersten Stunde ungefähr. Worüber hast du nachgedacht?«
»Über alles.« Er kratzte ein Stück Mörtel aus einem Riß in der Mauer und schnippte es in die Bäume hinunter. Eine Schar Krähen flatterte schimpfend in die Höhe. »Ich zermartere mir das Gehirn über meine Vergangenheit und komme immer wieder zu der gleichen Schlußfolgerung. Ich weiß nicht, was, in Hels Namen, ich eigentlich tue.«
Sie zog ihre Knie hoch und lehnte sich nach rückwärts an den Stein, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Ihre Augen füllten sich mit Licht und schimmerten wie von Wasser geschliffener Bernstein. Seine Kehle zog sich plötzlich zusammen, übervoll von Worten.
»Du löst Rätsel«, erwiderte sie. »Du hast mir gesagt, daß das das einzige ist, was du tun kannst, blind und taub und stumm, wie du bist, nicht wissend, wohin dein Weg dich führt.«
»Ich weiß.« Er kratzte wieder Mörtel aus dem Mauerriß und schleuderte ihn mit solcher Gewalt von sich, daß er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. »Ich weiß. Aber seit sieben Tagen bin ich nun hier bei dir in Anuin und kann nicht einen Grund oder ein Rätsel finden, das mich aus diesem Haus hinaustreibt. Ich weiß nur, wenn wir noch viel länger hierbleiben, werden wir beide sterben.«
»Das ist schon mal ein Grund«, versetzte sie ernst.
»Ich weiß nicht, warum meinem Leben von den drei Sternen in meinem Gesicht Gefahr droht. Ich weiß nicht, wo der Erhabene ist. Ich weiß nicht, was die Gestaltwandler sind, ich weiß nicht, wie ich einem Grab voller Kinder helfen soll, die auf dem Grund eines Berges zu Stein geworden sind. Ich weiß nur einen Ort, wo ich versuchen kann, Antwort auf diese Fragen zu finden. Und die Aussicht ist nicht verlockend.«
»Wo?«
»In Ghisteslohms Geist.«
Sie sah ihn an, schluckte einmal und senkte dann stirnrunzelnd den Blick zum sonnenwarmen Stein hinunter.
»Nun...« Ihre Stimme zitterte beinahe unmerklich. »Ich habe nicht geglaubt, daß wir ewig hierbleiben können. Aber, Morgon —«
»Du könntest hierbleiben.«
Sie hob den Kopf. Das Licht der Sonne fing sich wieder in ihren Augen, und er konnte den Ausdruck in ihnen nicht lesen. Doch ihre Stimme verriet hartnäckige Entschlossenheit. »Ich werde dich nicht allein lassen. Ich habe selbst den Reichtum von Hel samt all seinen Schweinen um deinetwillen ausgeschlagen. Du mußt lernen, mit mir zu leben.«
»Es ist schwierig genug, überhaupt zu leben«, murmelte er, ohne zu überlegen, und errötete dann. Doch ihr Mund zuckte. Er neigte sich zu ihr und nahm ihre Hand. »Für ein einziges silbernes Schweinehaar würde ich dich mit mir nach Hed nehmen und den Rest meines Lebens damit zubringen, in Ost-Hed Ackergäule zu züchten.«
»Das Schweinehaar kann ich dir bringen.«
»Ich will dich heiraten, Rendel. Wie stelle ich das in diesem Land an?«
»Du kannst mich nicht heiraten«, erwiderte sie ruhig, und seine Hand wurde schlaff.
»Was?«
»Nur der König kann seine Erben verheiraten. Und mein Vater ist nicht hier. Wir müssen das also aufschieben, bis er die Zeit findet, nach Haus zurückzukehren.«
»Aber, Rendel —«
Sie schleuderte einen Krümel Mörtel über die Schwanzfedern einer vorüberfliegenden Krähe hinweg, so daß diese mit einem lauten Krächzen abschwenkte. »Aber, was?« fragte sie düster.
»Ich kann doch nicht — erst dringe ich in das Land deines Vaters ein und störe die Toten auf, begehe in seinem Sitzungssaal beinahe einen Mord, und dann soll ich auch noch dich mit mir fortnehmen und mit dir durch das Reich ziehen, ohne dich zu heiraten! Das geht doch nicht! Was, in Hels Namen, soll dein Vater von mir denken?«
»Das wird er dich schon wissen lassen, wenn er endlich mit dir zusammentrifft. Ich jedenfalls, und das ist hier von größerem Belang, bin der Meinung, daß mein Vater sich lange genug in mein Leben eingemischt hat. Kann sein, daß er unsere Begegnung vorausgesehen hat, vielleicht sogar unsere Liebe zueinander, aber ich finde, er soll nicht in allem seinen Willen haben. Ich werde dich nicht heiraten, nur weil er das auch irgendeinem Traum vorhergesehen hat.«
»Glaubst du, daß dies der Grund für sein befremdliches Gelöbnis hinsichtlich Pevens Turm war?« fragte er neugierig. »Vorherwissen?«
»Du wechselst das Thema.«
Er sah sie einen Moment lang stumm an, während er sich das, was sie erörtert hatten, durch den Kopf gehen ließ.
»Nun«, sagte er dann leise, und ihm war dabei, als überließe er ihre gemeinsame Zukunft dem Spiel der Winde, die in schwindelnder Höhe über den Turm hinstrichen, »wenn du dich weigerst, mich zu heiraten, dann kann ich wohl nichts daran ändern. Und wenn du dich entschieden hast, mit mir zu kommen — wenn du das wirklich willst —, dann werde ich dich nicht daran hindern. So groß ist mein Verlangen nach dir. Aber ich habe trotzdem entsetzliche Angst. Ich glaube, wir hätten mehr Hoffnung auf Überleben, wenn wir kopfüber von diesem Turm stürzten. Und wenigstens wüßten wir dann, wie der Weg aussieht, der vor uns liegt.«