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Nicht weit entfernt war das sachte Rauschen von Wasser zu hören. Morgon, dessen Gesicht mit einer Maske aus Staub überdeckt war, sagte müde: »Ich erinnere mich. Ich durchquerte einen Fluß, als ich von der Ebene der Winde südwärts ritt. Ich vermute, die Straße folgt seinem Lauf.« Er lenkte sein Pferd von der Straße weg. »Dort können wir unser Lager aufschlagen.«

Sie fanden den Fluß nicht weit von der Straße entfernt, ein silbernes Band im Mondlicht. Rendel sank am Fuß eines Baumes zusammen, während Morgon die Pferde absattelte und sie trinken ließ. Er trug ihr Bündel und die Decken zu einer kleinen Lichtung im Farn. Dann setzte er sich neben Rendel nieder und ließ seinen Kopf auf die verschränkten Arme sinken.

»Ich bin das Reiten auch nicht gewöhnt«, murmelte er.

Sie nahm ihren Hut ab und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

»Ein Ackergaul«, murmelte sie.

Sie schlief ein, wo sie saß. Morgon legte seinen Arm um sie. Eine Zeitlang blieb er wach und lauschte in die Dunkelheit. Doch er hörte nur die verstohlenen Geräusche jagender Nachttiere, den sanften Flügelschlag einer Eule, und als der Mond langsam unterging, fielen ihm die Augen zu.

Die leuchtenden Strahlen der sommerlichen Sonne blendeten sie, als sie erwachten, und von der Straße her drang das Ächzen und Stöhnen von Wagenrädern zu ihnen. Sie aßen und wuschen sich, und als sie schließlich wieder auf die Straße hinausritten, wimmelte es dort von Wagen und Karren, von berittenen Händlern, von Bauern, die Obst und Gemüse oder Tiere von abgelegenen Höfen nach Caithnard brachten, von Männern und Frauen mit Bediensteten und schwerbeladenen Saumpferden, die aus unerfindlichen Gründen die lange Reise quer durch das Reich nach Lungold machten. Morgon und Rendel paßten den Schritt ihrer Pferde der langsamen, gleichmäßigen Gangart an, die die monotone sechswöchige Reise bis zu ihrem Ende bestimmen würde. Auf der belebten Straße, zwischen Schweinetreibern und reichen Edelleuten, fielen sie nicht auf. Händler, die ein müßiges Gespräch anknüpfen wollten, schreckte Morgon ab, indem er mürrisch und verdrießlich auf ihre Annäherungsversuche reagierte. Einmal erschreckte er Rendel dadurch, daß er einen reichen Kaufmann beschimpfte, der eine Bemerkung über ihr Gesicht gemacht hatte. Einen Moment lang schien der Mann zornig, und die Hand, die die Reitgerte hielt, ballte sich zusammen; dann aber warf er einen Blick auf Morgons geflickte Stiefel und das staubige, von Schweißrinnsalen durchzogene Gesicht, und er lachte, nickte Rendel zu und galoppierte davon.

Rendel ritt schweigend, den Kopf gesenkt, die Zügel in einer Faust zusammengedrückt. Morgon, der gern gewußt hätte, was ihr durch den Kopf ging, streckte den Arm zu ihr hinüber und berührte sie leicht. Sie sah ihn an, das Gesicht schweißnaß und müde.

Er sagte leise: »Du hast es so gewollt.«

Sie begegnete seinem Blick, ohne etwas zu erwidern. Schließlich seufzte sie, und die Hand an den Zügeln lockerte sich.

»Kennst du die neunundneunzig Verwünschungen, die die Hexe Madir über einen Mann verhängte, der eines ihrer Schweine stahl?«

»Nein.«

»Ich werde sie dir beibringen. Es könnte ja sein, daß dir im Lauf von sechs Wochen die Flüche und Verwünschungen ausgehen.«

»Rendel —«

»Hör auf, mich zu ermahnen, vernünftig zu sein.«

»Ich habe dich nicht ermahnt!«

»Du hast mich mit deinem Blick ermahnt.«

Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar.

»Du bist manchmal aller Vernunft so unzugänglich, daß du mich an mich selbst erinnerst. Ja, lehre mich die neunundneunzig Verwünschungen. Dann habe ich etwas, worüber ich nachdenken kann, während ich Straßenstaub schlucke.«

Sie war wieder still. Ihr Gesicht war im Schatten ihrer Hutkrempe verborgen.

»Verzeih mir«, sagte sie. »Dieser Kaufmann hat mich erschreckt. Er hätte dir etwas antun können. Ich weiß, daß ich für dich eine Gefahr bin, aber das war mir vorher nicht klar. Aber, Morgon, ich kann doch nicht — ich kann nicht —«

»Ja, fliehe vor deinem Schatten. Vielleicht wird es dir besser gelingen als mir.«

Sie wandte ihr Gesicht von ihm ab. Ohne etwas zu sagen, ritt er weiter. Vor ihm brach sich funkelnd das Sonnenlicht in den Metallbändern einer Ladung Weinfässer. Er legte schließlich eine Hand über seine Augen, um sie gegen das blendende Licht zu schützen:

»Rendel«, sagte er, »es belastet mich nicht. Jedenfalls nicht um meinetwegen. Wenn es einen Weg gibt, dich sicher bei mir zu behalten, dann werde ich ihn finden. Du bist Wirklichkeit, wie du neben mir bist. Ich kann dich berühren. Ich kann dich lieben. Ein ganzes Jahr lang, während ich dort in dem Berg war, habe ich nicht einen Menschen berührt. Ich sehe nichts vor mir, was ich lieben könnte. Selbst die Kinder, die mir meinen Namen gegeben haben, sind tot. Wenn du dich entschieden hättest, in Anuin auf mich zu warten, würde ich mich jetzt fragen, welchen Wert die Wartezeit für uns beide hätte. Aber du bist bei mir, und du entreißt meine Gedanken einer hoffnungslosen Zukunft, bringst sie immer wieder zurück in diesen Moment, zurück zu dir — so, daß ich sogar zufrieden bin, Straßenstaub zu schlucken.« Er nahm die Hand von den Augen und sah sie an. »Lehre mich die neunundneunzig Flüche.«

»Ich kann nicht.« Er konnte ihre Stimme kaum hören. »Du hast mich vergessen gemacht, wie man flucht.«

Doch er entlockte sie ihr später, um den langen Nachmittag zu verkürzen. Ehe das abendliche Zwielicht dämmerte, hatte sie ihn vierundsechzig Flüche gelehrt, eine abwechslungsreiche, detaillierte Litanei, die sich mit sämtlichen Körperteilen des Schweinediebs von Kopf bis Fuß befaßte und letzten Endes einen Eber aus ihm machte. Danach schwenkten sie von der Straße ab, fanden den Fluß nur fünfzig Meter entfernt. Es gab keine Gasthäuser oder Dörfer in der Gegend, und so schlugen die anderen Reisenden, die wie sie der langen Straße folgten, rund um sie herum ihre Lager auf. Der Abend hallte wider von Gelächter und Musik, in die Luft woben sich Düfte brennenden Holzes und bratenden Fleisches. Morgon wanderte ein Stück flußaufwärts und fing mit den Händen ein paar Fische. Er nahm sie aus, füllte sie mit wilder Zwiebel und trug sie zu ihrem Lager zurück.

Rendel hatte gebadet und ein Feuer angefacht; sie saß daneben und kämmte sich das nasse Haar. Als er sie so im Schein ihres Feuers sitzen sah, als er selbst in den Lichtkreis trat und sah, wie sie den Kamm senkte und zu ihm aufblinzelte, stiegen neunundneunzig Flüche über seine eigene Grobheit in seiner Kehle auf. Sie sah es in seinen Zügen, und ihr Gesicht veränderte sich, als er neben ihr niederkniete. Er legte ihr die in Blätter eingehüllten Fische zu Füßen wie ein Geschenk. Ihre Finger streichelten seine Wangen und zeichneten seinen Mund nach.

»Verzeih mir«, flüsterte er.

»Was? Daß du recht hast? Was hast du mir mitgebracht?« Neugierig schälte sie ein Blatt weg. »Fisch.«

Wieder verfluchte er sich im stillen. Sie umfaßte sein Gesicht mit ihren Händen und küßte ihn wieder und wieder, bis der Staub und die Erschöpfung des Tages verflogen und die lange Straße wie ein Lichtstrahl im Gewirr seiner Erinnerungen funkelte.

Später, nachdem sie gegessen hatten, lagen sie am Feuer, und sie lehrte ihn die restlichen Flüche. Sie hatten den imaginären Dieb bis auf die Ohren, Eckzähne und Fußknöchel in einen Eber verwandelt, als die stockenden, zaghaften Klänge einer Harfe die Nachtluft kräuselten und sich mit dem Murmeln des Flusses mischten. Morgon, der ihnen lauschte, merkte erst, daß Rendel mit ihm sprach, als sie ihm die Hand auf die Schulter legte. Er fuhr zusammen.

»Morgon.«

Abrupt stand er auf, trat an den Rand des Lichtkreises, den das Feuer warf, und spähte angestrengt in die Nacht. Seine Augen gewöhnten sich an das Mondlicht; er sah verstreut flackernde Feuer, die die mächtigen, vernarbten Stämme der Eichen erleuchteten. Die Luft war still, dünn drangen Stimmen und Musik aus der Ferne durch das Schweigen. Er erstickte einen plötzlichen drängenden Impuls, die Saiten der Harfe mit einem Gedanken zu zerreißen, und ließ wieder Frieden in die Nacht einkehren.