»Wer, in Hels Namen...?« Abrupt sprang er auf.
»Morgon«, sagte Rendel leise, »es gibt auch, noch andere Harfner auf der Welt.«
»Er spielt im Dunklen.«
»Woher weißt du, daß es ein Mann ist? Vielleicht ist es eine Frau oder ein Junge mit seiner ersten Harfe, der allein nach Lungold reist. Wenn du alle Harfen auf der Welt zerstören willst, dann fängst du am besten mit der an, die du auf dem Rücken trägst, weil das die einzige ist, die dir niemals Frieden lassen wird.«
Er erwiderte nichts.
»Kannst du es aushaken«, fügte sie hinzu, als wäre sie ein Echo von ihm, »wenn ich dir eine Rätselgeschichte erzähle?«
Er drehte sich um, sah die von Mondlicht umflossenen Konturen ihres Körpers, die Klinge, die sanftglitzernd in ihren Händen lag.
»Nein«, antwortete er.
Nach einer Weile setzte er sich neben ihr nieder, ausgelaugt von der Anstrengung, die Töne einer vertrauten Ballade aus Ymris aufzufangen, die der Harfner immer wieder verfehlte.
»Wenn ich schon von einem Harfner verfolgt werden muß«, brummte er grimmig, »dann wünschte ich, es wäre ein besserer.« Er nahm ihr das Schwert ab. »Ich wache.«
»Laß mich nicht allein«, flehte sie, seine Gedanken lesend.
Er seufzte. »Gut.« Er legte das Schwert quer über seine Knie und blickte auf es nieder, während der Mond es zu kaltem Feuer schmiedete, bis endlich die Harfenklänge verstummten und er wieder denken konnte.
Auch in der nächsten Nacht und in der übernächsten und der überübernächsten hörte Morgon das Harfenspiel. Es erklang zu seltsamen Stunden der Nacht, gewöhnlich wenn er aufsaß und lauschte. Er hörte es an den äußersten Rändern seines Bewußtseins. Rendel schlief ungestört von seinen Klängen. Und manchmal hörte er es in seinen Träumen, und es weckte ihn, so daß er wie betäubt und schwitzend aus einem Traum von Dunkelheit in Dunkelheit emporfuhr, hier wie dort von denselben, unentrinnbaren Klängen der Harfe verfolgt. Eines Nachts machte er sich auf die Suche nach dem Harfner, doch er verlief sich nur in den Bäumen. Und als er kurz vor Morgengrauen todmüde in der Gestalt eines Wolfes zurückkehrte, erschreckte er die Pferde, und Rendel warf einen Feuerkreis um die Tiere und um sich selbst, an dem er sich beinahe das Fell versengt hätte. Wütend redeten sie aufeinander ein, bis der Anblick ihrer hochroten, verschmutzten Gesichter sie beide in Gelächter ausbrechen ließ.
Je länger sie ritten, desto länger schien die Straße sich hinzuziehen, Meile um Meile durch endlose Wälder, die immer gleich blieben. Unaufhörlich irrte Morgons Geist suchend durch Fetzen von Gesprächen, hinter Gesichter, an denen sie vorüberkamen, zu Geräuschen, die vor ihnen und hinter ihnen lagen, über die stummen Bilder hinter den Augen eines Vogels, der über ihnen flog. Er verlor sich in seinem Bemühen, gleichzeitig vorwärts und rückwärts zu schauen, nach Harfnern Ausschau zu halten, nach Pferdedieben, nach Gestaltwandlern. Er hörte Rendel kaum, wenn sie sprach. Als sie einmal ganz aufhörte, mit ihm zu reden, merkte er es erst Stunden später. Je weiter sie sich von Caithnard entfernten, desto spärlicher wurde das Treiben auf der Handelsstraße; hin und wieder kam es jetzt vor, daß sie Meile um Meile ritten, ohne einem Menschen zu begegnen. Nur die Hitze war unverändert, jeder Fremde, der nach einem einsamen Stück Wegs hinter ihnen auftauchte, war ihnen verdächtig. Abgesehen von dem allnächtlichen Harfenspiel jedoch waren ihre Nächte ruhig und friedlich. An dem Tag, an dem Morgon sich zum erstenmal sicher fühlte, verloren sie ihre Pferde.
Sie machten früh halt an diesem Tag. Sie waren beide erschöpft. Morgon ging davon, während sich Rendel im Fluß das Haar wusch. Zu Fuß marschierte er eine halbe Meile zurück zu einem Gasthaus, an dem sie vorübergekommen waren, um Proviant einzukaufen und vielleicht ein paar Neuigkeiten aufzuschnappen. Die Gaststube war zum Brechen voll mit Reisenden; Händlern, die den letzten Klatsch austauschten; fahrenden Musikanten, die um den Preis einer Mahlzeit jedes Instrument außer einer Harfe spielten; Kaufleuten; Bauern, Familien, die auf der Flucht zu sein schienen, ihr ganzes Hab und Gut in Bündeln bei sich.
Es summte von Gerüchten in der von Wein und Bier angeheizten Atmosphäre. Morgon wählte ganz willkürlich eine satte, volltönende Stimme an einem entfernt stehenden Tisch, folgte ihr, als folgte er dem Klang eines Instruments.
»Zwanzig Jahre«, sagte der Mann. »Zwanzig Jahre habe ich direkt gegenüber gewohnt. Ich verkaufte Tuch und Pelze aus allen Teilen des Reiches in meinem Laden, und nie hat sich drüben in den Ruinen der alten Schule auch nur ein Mäuschen gemuckst. Aber eines Abends dann, ziemlich spät, als ich meine Bücher durchging, sah ich hier und dort in den zerbrochenen Fenstern Licht. Kein Mensch hat sich da je hinübergewagt, trotz all der Pracht und Üppigkeit; der ganze alte Bau ist verzaubert. Es riecht dort förmlich nach Unglück. Ich die Lichter sehen und nichts wie weg. Jeden Ballen Stoff hab’ ich aus dem Laden mitgenommen, und meinen Lieferanten hab’ ich Nachricht hinterlassen, mir alles, was sie für mich eingekauft haben, direkt nach Caithnard zu bringen. Dann hab’ ich mich davongemacht. Wenn es in der Stadt noch einmal zu einem Krieg der Zauberer kommt, dann ohne mich. Ich werde sicher und wohlbehalten auf der anderen Seite des Reiches sitzen.«
»In Caithnard?« fragte ein anderer Kaufmann ungläubig. »Wo gleich nördlich davon in den Küstengebieten von Ymris der Krieg tobt? In Lungold gibt es wenigstens Zauberer. Caithnard hat nur Fischweiber und Gelehrte zu bieten. Ein toter Fisch ist als Waffe ebenso untauglich wie ein Buch. Ich bin aus Caithnard weggegangen. Ich bin auf dem Weg ins Hinterland; in fünfzig Jahren komm’ ich da vielleicht wieder raus.«
Morgon ließ die Stimmen wieder mit dem allgemeinen Lärmen verschmelzen. Er merkte, daß der Wirt neben ihm stand.
»Herr?« fragte der Wirt kurz, und Morgon bestellte Bier. Es kam aus Hed, und es spülte den Straßenstaub von hundert Meilen seine Kehle hinunter. Sporadisch tauchte er in andere Gespräche ein. Eine Bemerkung von einem Händler mit säuerlichem Gesicht fesselte seine Aufmerksamkeit.
»Es ist dieser verwünschte Krieg in Ymris. Den Bauern in Ruhn sind fast sämtliche Pferde beschlagnahmt worden — die Nachkommen der Schlachtrösser von Ruhn, die jetzt zum Pflügen gezogen werden. Der König behauptet sich noch immer auf der Ebene der Winde, aber er zahlt einen blutigen Preis für das Patt. Seine Krieger kaufen alle Pferde, die ihnen angeboten werden — und die Bauern genauso. Keiner fragt mehr, woher die Pferde kommen. Ich laß mein Gespann jede Nacht von zwei bewaffneten Leuten bewachen, seit ich aus Caithnard fortgezogen bin.«
Morgon stellte sein leeres Glas hin. Plötzliche Unruhe packte ihn. Rendel war mit den Pferden allein. Ein Händler neben ihm stellte ihm eine freundliche Frage; er knurrte eine mürrische Antwort. Er wollte eben gehen, als sein eigener Name ihm ans Ohr drang.
»Morgon von Hed? Ich hab’ gehört, er wäre in Caithnard gewesen, als Rätselschüler verkleidet. Er verschwand wieder, noch ehe die Meister ihn erkannt hatten.«
Morgon blickte sich um. Eine Gruppe von Spielleuten scharrte sich um einen Krug Wein, den sie miteinander teilten.
»Er war in Anuin«, bemerkte ein Flötenspieler, während er Speichel aus seinem Instrument wischte. Er blickte auf die stummen Gesichter rundum. »Ihr habt die Geschichte nicht gehört? Er holte den Harfner des Erhabenen schließlich in Anuin ein, im großen Königssaal —«
»Den Harfner des Erhabenen!« sagte ein hochaufgeschossener Jüngling, der mit mehreren kleinen Trommeln behangen war, bitter. »Und was hat der Erhabene in dieser ganzen Zeit getan? Ein Mann verliert seine Landherrschaft, wird im Namen des Erhabenen von einem Harfner verraten, der jeden König im Reich belogen hat, und der Erhabene rührt keinen Finger — wenn er überhaupt einen hat —, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«