»Wenn ihr mich fragt«, mischte sich ein Sänger ein, »dann ist der Erhabene nichts weiter als ein Märchen. Erfunden vom Gründer von Lungold.«
Darauf trat ein kurzes Schweigen ein. Der Sänger zwinkerte ein wenig nervös, als hätte er Angst, der Erhabene könnte neben ihm stehen und zuhören, während er ein Bier trank.
»Keiner hat dich um deine Meinung gefragt«, knurrte ein anderer Sänger. »Haltet jetzt endlich den Mund alle miteinander. Ich möchte hören, was in Anuin passiert ist.«
Abrupt wandte Morgon sich ab. Eine Hand hielt ihn fest. Der Händler, der ihn zuvor angesprochen hatte, sagte langsam und verwirrt: »Ich kenne Euch. Euer Name liegt mir auf der Zunge, ich weiß ihn... Es hat irgend etwas mit Regen zu tun...«
Morgon erkannte ihn; es war der Händler, mit dem er vor langer Zeit an einem regnerischen Herbsttag in Hlurle gesproeben hatte, nachdem er das Hügelland von Herun hinter sich gelassen hatte.
Er sagte brüsk: »Ich weiß nicht, was, in Hels Namen, Ihr da redet. Es hat seit Wochen nicht mehr geregnet. Wollt Ihr Eure Hand behalten, oder soll ich sie mit mir nehmen?«
»Meine Herren, meine Herren«, murmelte der Wirt. »Keine Ausfälligkeiten in meinem Gasthaus.«
Der Händler nahm zwei Bier von seinem Tablett und stellte eines vor Morgon hin.
»Nichts für ungut.« Noch immer neugierig und verwirrt, blickte er forschend in Morgons Gesicht. »Sprecht ein wenig mit mir. Ich war seit Monaten nicht mehr zu Hause in Kraal und hab’ dringend ein bißchen Geschwätz —«
Morgon entzog sich mit einem Ruck seiner Hand. Sein Ellbogen stieß gegen den Krug, so daß das Bier über den Tisch floß und einem Pferdehändler auf die Knie sickerte. Der Mann sprang fluchend auf. Etwas, das sich in Morgons Gesicht regte, ein Aufblitzen von bezwingender Macht vielleicht oder von Verzweiflung, erstickte seinen ersten Impuls.
»So geht man mit gutem Bier wirklich nicht um«, bemerkte er finster. »Und auf so rüde Weise schlägt man ein so freundliches Angebot nicht aus. Es wundert mich, daß Ihr noch am Leben seid, wenn Ihr des öfteren auf solche Weise Händel sucht.«
»Ich kümmere mich um meine eigenen Geschäfte«, gab Morgon kurz zurück.
Er warf eine Münze auf den Tisch und ging wieder hinaus in die Abenddämmerung. Seine eigene Grobheit lag ihm wie ein schlechter Geschmack im Mund. Erinnerungen, die die Spielleute in ihm aufgewühlt hatten, geisterten durch seinen Kopf: das Licht, wie es sich in der Klinge seines Schwertes fing, das Gesicht des Harfners, als dieser den Kopf hob, dem Schwertschlag zu empfangen. Schnellen Schrittes eilte er durch die Bäume, verwünschte die endlose Länge der Straße, den Staub, der sie bedeckte, die Sterne auf seinem Gesicht und all die Schatten der Erinnerung, vor denen er nicht fliehen konnte.
Beinahe wäre er an ihrem Lagerplatz vorbeigelaufen, ohne ihn zu erkennen. Dann aber blieb er stehen und sah sich verwundert um. Rendel und beide Pferde waren verschwunden. Flüchtig schoß ihm die Frage durch den Kopf, ob er sie mit irgend etwas, was er getan hatte, so schwer gekränkt hatte, daß sie beschlossen hatte, mit beiden Pferden nach Anuin zurückzureiten. Die Bündel und die Sättel lagen dort, wo er sie niedergelegt hatte; es gab keine Spuren eines Kampfes, keine aufgewirbelten Blätter, keine abgebrochenen Äste. Dann hörte er sie rufen und sah sie, wie sie an einer seichten Stelle stolpernd durch den Fluß watete.
Ihr Gesicht war naß von Tränen.
»Morgon, ich war am Fluß und wollte Wasser holen, als zwei Männer an mir vorbeiritten. Sie hätten mich beinah niedergetrampelt. Ich war so wütend, daß ich gar nicht merkte, daß sie unsere Pferde ritten. Erst als sie drüben am anderen Ufer waren, sah ich es. Da bin ich —«
»Du bist ihnen nachgelaufen?« fragte er ungläubig.
»Ich dachte, sie würden durch den Wald vielleicht langsamer reiten. Aber sie fingen an zu galoppieren. Es tut mir so leid.«
»Sie werden in Ymris einen guten Preis für die Pferde bekommen«, stellte Morgon grimmig fest.
»Morgon, sie sind bestimmt noch keine Meile weg. Du könntest sie leicht zurückholen.«
Er zögerte, blickte in ihr zorniges, müdes Gesicht. Dann wandte er sich von ihr ab, hob das Bündel auf, in dem ihr Proviant verstaut war.
»Heureus Heer braucht die Pferde dringender als wir.«
Er spürte ihr plötzliches Schweigen in seinem Rücken wie etwas Greifbares. Er schlug das Bündel auf und verfluchte sich selbst, als ihm aufging, daß er vergessen hatte, neuen Proviant zu kaufen.
Sie sagte leise: »Heißt das, daß wir bis nach Lungold zu Fuß gehen müssen?«
»Wenn du willst.« Seine Finger an den Schnüren des Bündels zitterten leicht.
Endlich hörte er Bewegung von ihr. Sie ging wieder zum Fluß hinunter, um ihren Wasserschlauch zu holen. Als sie zurückkam, fragte sie mit ruhiger Stimme: »Hast du Wein mitgebracht?«
»Den hab’ ich vergessen. Ich hab’ alles vergessen.« Er fuhr herum, griff sie an, noch ehe sie überhaupt etwas sagen konnte. »Und ich kann nicht noch mal hingehen. Da gerate ich höchstens in eine Prügelei.«
»Hab’ ich das denn von dir verlangt? Ich wollt’ es nicht einmal verlangen.« Sie ließ sich am Feuer nieder und warf einen Zweig in die Flammen. »Ich hab’ die Pferde verloren, du hast das Essen vergessen. Du hast mir auch keinen Vorwurf gemacht.« Sie drückte ihr Gesicht plötzlich gegen ihre Knie. »Morgon«, flüsterte sie, »verzeih mir. Lieber will ich auf allen vieren nach Lungold kriechen als meine Gestalt wechseln.«
Er stand stumm da und blickte auf sie hinunter. Nach einer Weile wandte er sich ab, marschierte im Halbkreis um das Feuer und starrt in das knorrige, alte Auge eines Baumstamms. Er drückte sein Gesicht dagegen, spürte, wie es in ihn hineinblickte, auf all die verschlungenen Wurzeln seiner eigenen Kraft. Einen Moment lang nagte Zweifel an ihm, und er hielt sich vor, daß es Unrecht war von ihm, etwas Derartiges von ihr zu verlangen, daß selbst seine eigene Kraft, die unter so finsteren Umständen und mit solcher Gewalt freigesetzt worden war, verdächtig war. Die Unsicherheit verebbte langsam, und es blieb, wie immer, das einzige, was er mit einiger Sicherheit erfassen konnte, die fragile, zwingende Struktur der Rätselkunst.
»Man kann nicht vor sich selbst fliehen.«
»Du fliehst doch auch. Vielleicht nicht vor dir selbst, aber vor dem Rätsel in deinem Rücken, dem du niemals ins Gesicht siehst.«
Müde hob er den Kopf und sah sie an. Er trat zum Feuer und schürte die sterbenden Flammen neu an.
»Ich fang’ uns ein paar Fische. Morgen früh geh’ ich noch einmal ins Gasthaus und hole alles, was wir brauchen. Vielleicht kann ich dort die Sättel verkaufen. Wir könnten das Geld gebrauchen. Es ist ein langer Weg bis Lungold.«
Am folgenden Tag sprachen sie kaum miteinander. Glühend stach die Sommerhitze auf sie hinunter, selbst wenn sie im Schatten der Bäume neben der Straße wanderten. Morgon trug beide Bündel. Bis zu diesem Moment war ihm gar nicht bewußt geworden, wie schwer sie waren. Die Riemen schnitten in seine Schultern ein und rieben seine Haut auf, so wie der Hader, den sie miteinander hatten, seine Seele aufrieb. Rendel erbot sich, eines zu tragen, doch er lehnte zornig ab, und sie wiederholte ihr Angebot nicht.
Am Mittag setzten sie sich an den Fluß und ließen die Füße ins Wasser hängen, während sie aßen. Das kalte Wasser tat ihnen beiden wohl, und sie sprachen ein wenig miteinander. Am Nachmittag war die Straße ziemlich ruhig; lange ehe ein Wagen auftauchte, konnten sie das Knarren seiner Räder hören. Doch die Hitze war sengend, beinahe unerträglich. Schließlich schwenkten sie von der Straße ab und trotteten bis zum Einbruch der Abenddämmerung am Flußufer entlang.
Als sie einen Lagerplatz gefunden hatten, ließ Morgon Rendel allein. Sie setzte sich ans Ufer und ließ die Beine ins Wasser baumeln, während er in Falkengestalt auf Jagd ging. Er schlug einen Hasen, der in den letzten Strahlen der Sonne auf einer Wiese träumte. Bei seiner Rückkehr fand er Rendel dort vor, wo er sie zurückgelassen hatte. Er häutete den Hasen und nahm ihn aus, hängte ihn dann an einem Spieß aus grünem Holz über das Feuer. Schweigend betrachtete er Rendel, die noch immer reglos am Ufer saß und ins Wasser starrte. Schließlich sprach er ihren Namen.