Ein Harfner spielte in den Schatten seiner Erinnerung ein Echo. Je mehr er spielte, um die Erinnerung zu löschen, desto heftiger brannte sie: fernes, kunstfertiges, bestrickendes Harfenspiel, das von jenseits der Schwärze kam, von jenseits des Wassers, das nirgendwo hinfloß und seit Jahrtausenden nirgendwo hingeflossen war. Das Feuer hinter Rendel schrumpfte zu einem Lichtpunkt, der sich weiter und weiter von ihm entfernte, bis die Schwärze sich wie eine Hand über seine Augen senkte. Eine Stimme erschreckte ihn, brach sich dröhnend in der steinernen Kammer, verlor sich in immer dünner werdendem Nachhall. Immer kam die Stimme unerwartet, ganz gleich, wie angespannt er auf einen Schritt lauschte. Es wurde so, daß er ständig horchte, während er auf kaltem Stein lag, die Muskeln verkrampft vom Warten. Und mit der Stimme kamen die suchenden Finger, die seinen Geist durchforschten und gegen die er sich nicht wehren konnte; kam der Schmerz, wenn er sich mit seinen Fäusten zur Wehr setzte; kamen endlose Fragen, die er aus Wut und Verzweiflung nicht beantwortete, bis plötzlich seine Wut in Entsetzen umschlug, als er spürte, wie die zarten, komplexen Instinkte für das Landrecht in ihm zu sterben begannen. Er hörte seine eigene Stimme antworten, hörte sie ein wenig lauter werden, hörte sie antworten, hörte sie wieder lauter werden, war plötzlich nicht mehr fähig zu antworten. Er hörte das Harfenspiel.
Seine Hände hielten inne. Sein Gesicht, das gegen das Holz der Harfe gedrückt war, schmerzte. Rendel saß ganz nahe bei ihm, den Arm um seine Schultern. Noch immer woben die Klänge der Harfe abgerissen durch seinen Geist. Er wollte weg von ihnen, doch sie verstummten nicht. Rendel drehte den Kopf; in einem Schwall schoß das Blut durch seinen Körper, als ihm klarwurde, daß auch sie die Klänge hörte.
Dann erkannte er das vertraute, zaghaft stockende Spiel. Er stand auf. Sein Gesicht war weiß und starr. Er griff sich eine Fackel aus dem Feuer. Rendel sprach seinen Namen; er konnte ihr nicht antworten. Sie wollte ihm folgen, hinkte auf bloßen Füßen durch das Farnkraut, doch er wartete nicht auf sie. Er jagte den Klängen der Harfe nach, hetzte durch die Bäume, über die Straße zur anderen Seite hinüber, wo er einen Händler erschreckte, der unter seinem Karren schlief; er stolperte durch dorniges Gebüsch und Unterholz, während das Harfenspiel lauter wurde und ihn zu umkreisen schien. Schließlich traf das Licht der Fackel, das über welkes Laub dahinglitt, eine Gestalt, die, über eine Harfe gebeugt, unter einem Baum saß. Morgon hielt an. Sein Atem kam in Stößen. Worte, Fragen, Flüche stauten sich in seiner Kehle. Langsam hob der Harfner das Gesicht zum Licht.
Morgon stockte der Atem. In der schwarzen Nacht jenseits des Fackelscheins war kein Geräusch zu hören. Der Harfner, den Blick auf Morgon gerichtet, spielte noch immer leise und ungelenk mit Händen, die knorrig waren wie Eichenwurzeln, verkrüppelt bis zur Unbrauchbarkeit.
Kap. 5
Morgon flüsterte: »Thod!«
Die Hände des Harfners wurden still. Sein Gesicht war so abgezehrt und verfallen, daß kaum noch etwas Vertrautes in ihm war. Nur der edle Schnitt der Züge und der Ausdruck in den Augen waren geblieben. Er hatte kein Pferd und kein Bündel, keinerlei Habe, soweit Morgon sehen konnte, außer einer dunklen Harfe, deren einziger Schmuck ihre schlanken, feinen Linien waren. Die zerstörten Hände ruhten einen Moment lang auf den Saiten, dann glitten sie abwärts, um die Harfe zu Boden zu stellen.
»Morgon.« Seine Stimme war rauh vor Müdigkeit und Verwunderung. Mit einer Sanftheit, die Morgon zum sprachlosen Gefangenen seines eigenen inneren Aufruhrs machte, fügte er hinzu: »Ich wollte Euch nicht stören.«
Morgon stand reglos. Selbst die Flamme in seiner Hand stach still in die windlose Nacht. Das tödliche, makellose Spiel der Harfe, das immer irgendwo im Dunklen hinter seinen Gedanken perlte, verwirrte sich plötzlich mit den mühsamen, stockenden Klängen, die er in den vergangenen Nächten gehört hatte. Er stand am Rande des Lichtscheins seiner eigenen Fackel und wollte schreien vor Wut, wollte kehrtmachen und gehen, ohne ein Wort zu sagen, und fühlte sich dennoch viel stärker getrieben, noch einen Schritt vorwärts zu gehen und eine Frage zu stellen. Und schließlich ging er diesen Schritt, so lautlos, daß er sich selbst kaum bewußt war, wie er sich bewegte.
»Was ist Euch geschehen?«
Seine eigene Stimme klang ihm fremd in den Ohren, als zuckte sie ein wenig zurück vor ihrer eigenen Ruhe.
Der Harfner blickte auf seine Hände hinunter, die wie Gewichte zu beiden Seiten seines Körpers lagen.
»Ich hatte einen Streit«, sagte er, »mit Ghisteslohm.«
»Ihr verliert nie einen Streit.«
Er war noch einen Schritt vorwärts gegangen, noch immer so angespannt und lautlos wie ein Tier.
»Ich habe auch diesen nicht verloren. Hätte ich ihn verloren, so gäbe es im Reich einen Harfner weniger.«
»Ihr sterbt nicht leicht.«
»Nein.«
Er beobachtete Morgon, der noch einen Schritt machte, und Morgon, der es merkte, erstarrte. Klaren Blicks sah ihm der Harfner in die Augen, bekannte alles, fragte nichts. Morgon schob die Fackel in seiner Hand höher. Sie brannte dicht über seiner Haut; er ließ sie fallen und entfachte im toten Laub ein kleines Feuer. In der veränderten Beleuchtung lag Thods Gesicht im Schatten; Morgon sah es so, wie er es in früheren Tagen hinter anderen Feuern gesehen hatte. Er schwieg still, eingeschlossen wieder in das Schweigen des Harfners. Und dieses Schweigen zog ihn vorwärts, wie über eine Brücke, die schmal war wie eine Schwertklinge und die Schlucht seines Zorns und seiner Verwirrung überspannte. Er kauerte schließlich neben dem Feuer nieder, zog einen Kreis darum und hielt es klein mit seinem Geist.
Nach einer Weile fragte er: »Wohin wollt Ihr?«
»Dorthin zurück, wo ich geboren wurde. Nach Lungold. Es gibt sonst keinen Ort, wohin ich mich wenden könnte.«
»Ihr wandert zu Fuß nach Lungold?«
Der Harfner zuckte leicht die Achseln. »Ich kann nicht reiten.«
»Was wollt Ihr in Lungold tun? Ihr könnt nicht auf der Harfe spielen.«
»Ich weiß es nicht. Betteln.«
Morgon schwieg wieder, während er ihn ansah. Seine Finger, die im welken Laub gruben, fanden eine Eichel und schnippten sie ins Feuer.
»Ihr habt Ghisteslohm sechshundert Jahre lang gedient. Ihr habt mich ihm ausgeliefert. Ist er so undankbar?«
»Nein«, antwortete Thod ohne alle Leidenschaft. »Er war argwöhnisch. Ihr ließt mich lebendigen Leibs aus Anuin fortgehen.«
Morgons Hand erstarrte unter den dürren Blättern. Irgend etwas durchrann ihn in diesem Moment, wie ein schwacher, wilder Hauch eines Windes, der über die nördlichen Einöden und über das ganze Reich hinweggefegt war, um dieser stillen Sommernacht eine Ahnung seines Wesens mitzuteilen. Nach einer Weile regte er seine Hand wieder; ein Zweig knickte zwischen seinen Fingern. Er warf die zerbrochenen Teile ins Feuer und tastete sich seinen Weg zu seinen Fragen, als begänne er einen Rätselkampf mit einem, über dessen Fähigkeiten er nichts wußte.
»Ghisteslohm war in An?«
»Er war im Hinterland gewesen, um seine Kräfte aufzubauen, nachdem Ihr Euch von ihm befreit hattet. Er wußte nicht, wo Ihr wart, doch da mein Geist ihm immer offen ist, war es ihm ein leichtes, mich in Hel zu finden.«
Morgon hob den Bjick. »Euer Geist ist noch immer mit dem seinen verbunden?«
»Ich vermute es. Mich braucht er jetzt nicht mehr, aber es kann sein, daß Ihr in Gefahr seid.«
»Er kam aber nicht nach Anuin, um mich dort zu suchen.«
»Er begegnete mir sieben Tage nachdem ich Anuin verlassen hatte. Es schien unwahrscheinlich, daß Ihr noch dort sein würdet.«
»Ich war dort.« Er legte eine Handvoll Äste ins Feuer, sah zu, wie sie aufloderten, sich dann in der Hitze verbogen und krümmten. Seine Augen glitten plötzlich zu den verkrüppelten Fingern des Harfners. »Was, in Hels Namen, hat er Euch angetan?«