»Ein Blinder hätte der Spur folgen können, die Ihr quer durch das Reich gezogen habt. Ich ahnte, daß Ihr nach Hed reisen würdet, und ich verfolgte Euch sogar dorthin, aber —«
Seine erhobene Hand gebot Morgons plötzlicher Bewegung Einhalt. »Ihr wart dort gewesen und schon wieder fort. Ich habe keinen Krieg mit Bauern und Kühen; ich habe dort alles so gelassen, wie es war.« Schweigend betrachtete er Morgon einen Moment lang. »Ihr habt die Geister der Toten von An nach Hed gebracht. Wie?«
»Wie, glaubt Ihr wohl? Ihr habt mich die Macht des Landrechts gelehrt.«
»Aber nicht in diesem Ausmaß.«
Morgon spürte plötzlich, wie sein Geist durchforscht wurde. Die Berührung blendete ihn, ließ Erinnerungen an Entsetzen und Hilflosigkeit wach werden. Wieder war er hilflos mit Rendel an seiner Seite, und Tränen der Verzweiflung und der Wut verschlossen ihm die Kehle. Der Zauberer, der das geistige Band abtastete, das Morgon in Anuin zu den Toten hergestellt hatte, brummte leise vor sich hin und ließ ihn wieder frei. Das Licht der Morgensonne überflutete wieder den Boden; er sah den Schatten des Harfners, der über den verkohlten Blättern lag. Er starrte auf ihn hinunter; seine Reglosigkeit nagte an ihm, und seine Bestürzung wandelte sich in Erstarrung. Dann fielen ihm Ghisteslohms Worte wieder ein, und er hob den Blick.
»Was meint Ihr damit? Alles, was ich weiß, habe ich von Euch gelernt.«
Der Zauberer blickte ihn zweifelnd an, als wäre er ein Rätsel auf einer staubigen Rolle Pergament. Er antwortete nicht; statt dessen sagte er abrupt zu Rendeclass="underline" »Könnt Ihr die Gestalt wechseln?«
Sie trat einen Schritt näher an Morgon heran und schüttelte den Kopf.
»Nein.«
»Fast sämtliche Könige in der Geschichte von An haben zu irgendeiner Zeit einmal die Gestalt der Krähe angenommen, und ich habe von Thod gehört, daß Ihr die geistigen Kräfte eines Gestaltwandlers geerbt habt. Ihr werdet schnell lernen.«
Blut schoß ihr in das bleiche Gesicht, doch sie sah den Harfner nicht an.
»Ich weigere mich, die Gestalt zu wechseln«, sagte sie leise und fügte in so wenig verändertem Ton hinzu, daß sowohl Morgon als auch der Zauberer überrascht waren: »Ich verfluche Euch in meinem Namen und in Madirs Namen. Augen sollt Ihr haben klein und feurig, die nicht höher sehen als bis zum Knie eines Menschen und nicht tiefer als bis zum Schlamm unter —«
Der Zauberer drückte ihr seine Hand auf den Mund, und sie brach ab. Er zwinkerte, als hätte er einen Moment lang einen Schleier vor den Augen gehabt. Seine Hand glitt zu ihrem Hals hinunter, und in Morgon spannte sich etwas bis zum gefährlichen Äußersten, wie die Saite einer Harfe, die gleich reißt.
Doch der Zauberer sagte nur trocken: »Erspart mir die nächsten achtundneunzig Flüche.«
Er hob die Hand, und sie räusperte sich. Morgon spürte, daß sie zitterte.
Sie sagte nochmals: »Ich werde nicht meine Gestalt wechseln. Eher will ich sterben. Das schwöre ich bei meinem —«
Wieder verschloß der Zauberer ihr den Mund. Er betrachtete sie mit mildem Interesse, sagte dann über seine Schulter hinweg zu Thod: »Nimm sie durch das Hinterland mit dir zum Erlenstern-Berg. Ich habe für derlei keine Zeit. Ich werde ihren Geist bannen; sie wird nicht versuchen zu fliehen. Der Sternenträger wird mir nach Lungold folgen und dann zum Erlenstern-Berg.« Er schien etwas zu wittern, das von dem starren, schwarzen Schatten ausging, der auf dem Farnkraut lag; er drehte den Kopf. »Ich werde Männer besorgen, die für Euch jagen und die sie bewachen.«
»Nein!«
Der Zauberer trat mit einer raschen, fließenden Bewegung neben Morgon, so daß dieser nichts tun konnte, ohne daß Ghisteslohm es gewahrte. Seine Brauen waren zusammengezogen; er hielt die Augen des Harfners fest, bis Thod wieder zu sprechen anfing.
»Ich stehe in ihrer Schuld. In Anuin hätte sie mich frei davongehen lassen, noch ehe Morgon je kam. Sie schützte mich unwissentlich vor ihm, indem sie mich mit einem kleinen Heer von Geistern umgab. Ich stehe nicht mehr in Euren Diensten, und Ihr schuldet mir den Dienst von sechshundert Jahren. Laßt sie ziehen.«
»Ich brauche sie.«
»Ihr könntet jeden der Zauberer von Lungold nehmen und Morgon auf diese Weise entmachten.«
»Die Zauberer von Lungold sind unberechenbar und allzu mächtig. Weiterhin haben sie eine Neigung dazu, wegen sehr merkwürdiger Anwandlungen zu sterben. Das hat Suth bewiesen. Gewiß, du hast recht, ich stehe in deiner Schuld, wenn für nichts anderes, so doch zumindest für dein verkrüppeltes Harfenspiel, das den Sternenträger lockte, sich dir zu Füßen zu knien. Aber verlange etwas anderes von mir.«
»Ich will nichts anderes. Höchstens vielleicht eine Harfe, die mit Wind besaitet ist, für einen, der keine Hände hat, zu spielen.«
Ghisteslohm schwieg. Morgon, in dessen Erinnerung sich das schwache Echo irgendeines Rätsels rührte, hob langsam den Kopf und sah den Harfner an. Seine Stimme klang nüchtern und leidenschaftslos wie immer, doch in seinen Augen lag eine Härte, die Morgon nie zuvor gesehen hatte. Ghisteslohm schien einen Augenblick lang auf einen Unterton zu lauschen: auf eine Stimme, die er durch das Rauschen des Morgenwindes hindurch nicht recht auffangen konnte.
Er sagte schließlich beinahe interessiert: »So. Selbst deine Geduld hat ihre Grenzen. Ich kann deine Hände heilen.«
»Nein.«
»Thod, du bist starrköpfig. Du weißt so gut wie ich, um welchen Preis es in diesem Spiel geht, Morgon stolpert wie ein Blinder in seine Macht hinein. Ich will ihn im Erlenstern-Berg haben, und ich will nicht mit ihm kämpfen müssen, um ihn dort hinzubringen.«
»Ich gehe nie wieder zum Erlenstern-Berg zurück«, sagte Morgon unwillkürlich.
Der Zauberer ignorierte ihn; seine Augen ruhten gespannt, ein klein wenig zusammengezogen auf Thods Gesicht.
Thod sagte leise: »Ich bin alt und verkrüppelt und sehr müde. Ihr habt mir in Hel wenig mehr gelassen als mein Leben. Wißt Ihr, was ich danach getan habe? Ich habe mein Pferd nach Caithnard geführt und einen Händler gefunden, der mir nicht ins Gesicht spie, als ich ihn ansprach. Bei ihm tauschte ich mein Pferd gegen die letzte Harfe, die ich je besitzen werde. Und ich versuchte, auf ihr zu spielen.«
»Ich habe gesagt, daß ich —«
»In diesem ganzen Reich steht mir nicht ein Hof offen, an dem ich spielen könnte, selbst wenn Ihr meine Hände heiltet.«
»Dieses Risiko hast du vor sechs Jahrhunderten angenommen«, entgegnete Ghisteslohm. Seine Stimme war dünn geworden. »Du hättest einen geringeren Hof als den meinen wählen können, um dort auf deiner Harfe zu spielen, irgendeinen unschuldigen, machtlosen Hof, dessen Unschuld diesen letzten Kampf nicht überleben wird. Du weißt das. Du bist zu weise, um zu Vorwürfen zu greifen, und du mußtest niemals verlorener Unschuld nachtrauern. Du kannst hierbleiben und verhungern oder Rendel von An zum Erlenstern-Berg bringen und mir helfen, diesen Kampf zu beenden. Dann kannst du dir jede Belohnung nehmen, die du für deine Dienste haben willst.« Er machte eine Pause, dann fügte er unwirsch hinzu: »Oder bist du mit einem geheimen, verborgenen Teil deines Wesens, den ich nicht erreichen kann, an den Sternenträger gebunden?«
»Ich schulde dem Sternenträger nichts.«
»Das war nicht meine Frage.«
»Ihr habt mir diese Frage schon einmal gestellt. In Hel. Wollt Ihr noch einmal eine Antwort?« Er hielt inne, als wäre ihm der plötzliche Zorn in seiner Stimme selbst unvertraut, und ruhiger fuhr er dann fort: »Der Sternenträger ist der Dreh- und Angelpunkt eines Spiels. Ich wußte so wenig wie Ihr, daß er in Gestalt eines jungen Fürsten von Hed erscheinen würde, der in mir eine Zuneigung erwecken sollte, die der Liebe gefährlich nahe kam. Eine andere Bindung besteht nicht, und dies ist kaum von Bedeutung. Ich habe ihn Euch zweimal verraten. Aber Ihr müßt Euch einen anderen suchen, Rendel von An zu verraten. Ich stehe in ihrer Schuld. Auch dies ist eine Sache von geringer Bedeutung. Sie ist keine Bedrohung für Euch, und jeder Landherrscher im Reich kann an ihrer Stelle —«