»Die Morgol?«
Thod war ganz still, atmete nicht, zuckte mit keinem Muskel. Er stand wie von Wind und Wetter aus Stein gemeißelt. Morgon wischte sich mit dem Handrücken etwas aus dem Gesicht; erstaunt sah er, daß er weinte.
Schließlich sagte Thod sehr leise: »Nein.«
»So.« Der Zauberer betrachtete ihn, und um seine Mundwinkel bildeten sich haarfeine Linien der Ungeduld und der Gewalt. »Hier haben wir also etwas, das keine so bedeutungslose Angelegenheit ist. Ich habe mich schon gewundert. Wenn ich dich nicht wieder in meine Dienste aufnehmen kann, dann kann ich dich vielleicht überreden. Die Morgol von Herun hat mit zweihundert ihrer Wachen vor Lungold ihr Lager aufgeschlagen. Die Wachen sind da, vermute ich, um die Stadt zu schützen; die Morgol wartet, einem Gefühl folgend, das mir unverständlich ist, auf dich. Ich gebe dir die Wahl. Wenn du dich dafür entscheidest, Rendel hier zurückzulassen, werde ich die Morgol mit mir zum Erlenstern-Berg nehmen, sobald ich mit Morgons Hilfe die letzten der Zauberer von Lungold bezwungen habe. Wähle!«
Er wartete. Der Harfner stand wieder reglos; selbst die verkrüppelten Knochen seiner Hände schienen spröde. Die Stimme des Zauberers peitschte ihm ins Gesicht, und er zuckte zusammen. »Wähle!«
Rendel drückte beide Hände auf ihren Mund.
»Thod, ich gehe mit«, flüsterte sie. »Ich werde Morgon sowieso folgen. Ich werde nicht eidbrüchig werden.«
Der Harfner sprach nicht. Sehr langsam schließlich ging er auf sie zu, die Augen auf Ghisteslohms Gesicht geheftet. Einen Schritt vor ihr blieb er stehen und holte Atem, um zu sprechen.
Mit einer blitzartigen Bewegung dann schlug er dem Gründer mit dem Rücken seiner verkrüppelten Hand ins Gesicht.
Ghisteslohm wich zurück. Seine Finger bohrten sich bis auf den Knochen in Morgons Arm, aber der hätte sowieso keinen Schritt tun können. Der Harfner fiel auf die Knie, über den frisch gebrochenen Knochen seiner Hand zusammengekrümmt. Er hob das Gesicht, das weiß war, verzerrt von Schmerz und Qual, und das um nichts bat.
Einen Moment lang blickte Ghisteslohm stumm auf ihn hinunter, und Morgon sah in seinen Augen ein Flimmern, das der Widerschein zusammengebrochener Erinnerungen vieler Jahrhunderte hätte sein können. Dann hob der Zauberer selbst die Hand. Eine Feuergarbe traf den Harfner über den Augen, schleuderte ihn nach rückwärts ins Farnkraut, wo er reglos liegenblieb, blind zur Sonne emporstarrend.
Der Zauberer hielt Morgon mit seiner Hand und mit seinen Augen fest, bis dieser langsam merkte, daß er von einem trockenen, tränenlosen Schluchzen geschüttelt wurde, daß seine Muskeln zum Angriff gespannt waren. Der Zauberer berührte flüchtig seine Augen, als hätte der Feuerstrahl, den sein Geist entzündet und abgeschleudert hatte, ihm Kopfschmerzen verursacht.
»Warum, in Hels Namen«, fragte er, »vergeudet Ihr Euren Gram an ihm? Seht mich an. Seht mich an!«
»Ich weiß es nicht!« schrie Morgon ihn an.
Er sah neue Feuerzungen durch die Luft schießen und über den Körper des Harfners lecken. Sie berührten die dunkle Harfe, und das Instrument ging in Flammen auf. Die Luft war erfüllt vom Wimmern zerreißender Saiten. Rendel schimmerte plötzlich in reinem Feuer; der Zauberer riß sie erbarmungslos mit seinem Geist in ihre natürliche Gestalt zurück. Sie war noch immer halb Feuer, und Morgon kämpfte gegen eine plötzliche Aufwallung unbändiger Kraft, die ihr zum Verhängnis geworden wäre, als etwas in ihm gefror. Er wirbelte herum.
Ein Dutzend Reiter standen unter den Bäumen und blickten neugierig herüber. Ihre Pferde hatten die Farbe der Nacht, ihre Gewänder die feuchtglänzenden, schillernden Farben des Meeres.
»Die Welt«, sagte einer der Männer in die plötzliche Stille hinein, »ist für Harfner kein sicherer Ort.« Er neigte seinen Kopf in Richtung zu Morgon. »Sternenträger.« Sein bleiches, ausdrucksloses Gesicht schien im leichten Wind ein wenig zu wabern. Ein Geruch nach Salzwasser strömte von ihm aus. »Ylons Tochter.« Der Blick seiner schimmernden Augen wanderte zu Ghisteslohm. »Erhabener.«
Fassungslos starrte Morgon die Reiter an. Sein Geist, der in rasender Geschwindigkeit Möglichkeiten des Handelns abspulte, wurde plötzlich leer. Sie hatten keine Waffen; ihre schwarzen Rosse standen unbewegt wie Stein, doch jeder Hauch einer Bewegung, spürte er, ein Wechsel im Licht, ein Vogelruf im falschen Ton, konnte einen erbarmungslosen Angriff auslösen. Sie schienen von absoluter Reglosigkeit befangen, wie gebannt in jenem Moment, bevor die Woge, nachdem sie ihren höchsten Stand erreicht hat, sich bricht; ob aus Neugier oder einfach aus Unsicherheit, das wußte er nicht. Er spürte, wie Ghisteslohms Hand seine Schulter umklammerte, und seltsamerweise war es ihm eine Beruhigung zu wissen, daß der Zauberer ihn lebend sehen wollte.
Der Gestaltwandler, der gesprochen hatte, beantwortete seine Frage mit feinem, zweideutigem Spott.
»Seid Jahrtausenden warten wir darauf, dem Erhabenen zu begegnen.«
Morgon hörte, wie der Zauberer Luft holte.
»So. Ihr seid also die Brut der Meere von Ymris und An —«
»Nein. Wir sind nicht des Meeres. Wir haben unsere Gestalt nach seinem Gesang geformt, der wie Harfenspiel ist. Ihr geht achtlos um mit Eurem Harfner.«
»Der Harfner ist meine Sache.«
»Er hat Euch treu gedient. Wir haben ihn über die Jahrhunderte beobachtet, wie er Eure Befehle ausführte, Eure Maske trug, wartete. So, wie wir warteten, lange schon, ehe Ihr den Fuß auf diese Erde des Erhabenen setztet, Ghisteslohm. Wo ist der Erhabene?«
Lautlos und fließend wie ein Schatten ging sein Pferd vorwärts, blieb drei Schritte vor Morgon stehen. Er widerstand einem Impuls, zurückzuweichen. Die Stimme des Gründers, die verdrossen und ungeduldig klang, verwunderte ihn.
»Ich habe kein Interesse an Rätselspielen. Auch nicht an einem Kampf. Ihr nehmt Eure Gestalt von Toten und von Tang; Ihr atmet, Ihr spielt auf Euren Harfen und Ihr sterbt — das ist alles, was ich weiß, das ist alles, was mich interessiert. Zurück mit Eurem Pferd, sonst reitet Ihr auf einem Haufen Seetangasche.«
Der Gestaltwandler zog sein Pferd einen Schritt zurück, ohne eine Miene zu verziehen. In seinen Augen fing sich das Licht wie in Wasser; einen Moment lang war es, als lächelten sie.
»Meister Ohm«, sagte er, »kennt Ihr das Rätsel von dem Mann, der um Mitternacht die Tür seines Hauses öffnete und vor sich nicht den schwarzen Himmel erblickte, sondern das pechschwarze Auge irgendeines unbekannten Geschöpfes, das sich weit über sein Blickfeld hinaus bis in unmeßbare Dimensionen erstreckte? Schaut uns noch einmal an. Und dann geht, ruhig und friedlich, und laßt den Sternenträger und unsere Verwandte zurück.«
»Schaut doch Ihr!« entgegnete der Gründer brüsk.
Morgon, der noch immer unter seinem Bann stand, wurde unter der Kraft, die aus ihm herausfloß, nach rückwärts geschleudert; eine überwältigende Kraft, die den Gestaltwandlern entgegenbrandete, eine Eiche fällte und verängstigte Vögel kreischend in die Lüfte trieb. Das lautlose Donnern des Feuers rollte ihnen mit rasender Geschwindigkeit entgegen; Morgon fühlte es, doch wie aus weiter Ferne, da der Zauberer seinen Geist dagegen abgeschirmt hatte. Als die geborstenen Bäume ruhig lagen, tauchten die Gestaltwandler langsam wieder aus der Schar der Vögel auf, die erschreckt in die Luft geflattert waren. Ihre Anzahl hatte sich verdoppelt; auch die reglosen Pferde waren Gestaltwandler gewesen. Ganz allmählich nahmen sie wieder ihre früheren Gestalten an, während Ghisteslohm, das spürte Morgon, darüber rätselte, wie weit ihre Macht und ihre Kraft reichten. Seine Hand, die immer noch Morgons Schulter umfaßt hielt, war schlaff geworden. Ein Zweig in einem Busch knackte leise, und da griffen die Gestaltwandler an.