Eine Woge schimmernder Schwärze, von lautlosen, muschelschwarzen Hufen getragen, wälzte sich ihnen so schnell entgegen, daß Morgon kaum Zeit hatte zu reagieren. Er warf ein Trugbild von Nichts über sich selbst, das, so vermutete er, nur Rendel bemerkte; sie stieß einen unterdrückten Schrei aus, als er sie am Handgelenk packte. Etwas traf ihn — ein Pferde-huf oder das Heft eines Schwertes, und er spürte, wie seine Muskeln sich spannten, den Todesstoß zu empfangen. Doch nichts berührte ihn, nur ein flüchtiger Wind streifte über ihn hin. Er schickte seinen Geist voraus, meilenweit die Straße hin-unter, wo ein Händler auf dem Kutschbock eines Wagens, der mit Tuchballen beladen war, sich seine Langeweile mit Pfeifen vertrieb. Er füllte Rendels Geist mit demselben lebendigen Bild, packte sie fest und zog sie mit sich in diese andere Wirklichkeit hinein.
Einen Augenblick später lag er neben ihr auf dem Boden des großen, überdachten Wagens, und sein Blut floß auf einen Ballen bestickten Leinens.
Kap. 6
Rendel schluchzte. Er versuchte, sie zu beruhigen, drückte sie an sich, während er lauschte, doch sie konnte nicht aufhören. Durch ihr Weinen hindurch hörte er das Knirschen der Räder im Staub und das Pfeifen des Fahrers, das durch die Tuchballen, die hinter ihm aufgestapelt waren, und durch die Plane, die den Wagen überspannte, nur gedämpft zu vernehmen war. Auf der Straße war es still; er hörte keine Geräusche, keinen Tumult hinter ihnen. Sein Kopf schmerzte; er lehnte sich gegen das Leinen. Seine Augen schlössen sich. Wieder donnerte Finsternis geräuschlos auf ihn zu. Ein Wagenrad rumpelte polternd durch ein Schlagloch, und er fuhr hoch. Rendel entwand sich seinen Armen und setzte sich auf. Sie schob sich das Haar aus den Augen. »Morgon, er kam in der Nacht und holte mich, und ich war barfuß — ich konnte nicht einmal rennen. Ich dachte, du wärst es. Ich habe nicht einmal Schuhe an. Was, in Hels Namen, wollte dieser Harfner nur? Ich verstehe ihn nicht. Ich —« Sie brach plötzlich ab und starrte ihn an, als wäre er ein Gestaltwandler, den sie unversehens neben sich gefunden hatte. Sie drückte eine Hand auf ihren Mund und berührte mit der anderen sein Gesicht. »Morgon...«
Er legte seine Hand auf ihre Stirn, blickte auf das Blut an seinen Fingern und stieß einen Laut der Überraschung aus. Eine Hälfte seines Gesichts brannte von der Schläfe bis zum Unterkiefer hinunter wie Feuer. Seine Schulter schmerzte; sein Kittel fiel auseinander, als er ihn berührte. Ein blutender, breiter Riß, wie von einem scharfen Pferdehuf geschlagen, pflanzte sich von seinem Gesicht über seine Schulter bis zur Mitte seiner Brust fort.
Langsam richtete er sich auf und starrte auf die Blutflecken, die er auf dem Boden des Wagens, auf dem feinen Tuch des Händlers zurückgelassen hatte. Ein heftiges Zittern überkam ihn plötzlich und drückte sein Gesicht gegen seine Knie.
»Ich bin mit offenen Augen in diese Falle hineingelaufen.« Er fing an, sich selbst nach allen Regeln der Kunst zu verwünschen, bis er sie aufstehen hörte. Er packte sie am Handgelenk und zog sie wieder herunter. »Nein!«
»Willst du mich wohl loslassen! Ich werde dem Händler sagen, daß er anhalten soll. Wenn du mich nicht sofort losläßt, schreie ich.«
»Nein. Rendel, hör mir zu. Willst du wohl zuhören! Wir befinden uns nur ein paar Meilen westlich von der Stelle, wo wir gefangen wurden. Die Gestaltwandler werden uns suchen. Und Ghisteslohm auch, wenn er nicht tot ist. Wir müssen ihnen entkommen.«
»Ich habe nicht einmal Schuhe an den Füßen! Und wenn du mir jetzt sagst, daß ich mich verwandeln soll, dann verfluche ich dich.« Dann streichelte sie wieder seine Wange und schluckte. »Morgon, kannst du nicht aufhören zu weinen?«
»Hab5 ich noch nicht aufgehört?«
»Nein.« Ihre eigenen Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Du siehst aus wie ein Gespenst aus Hel. Bitte laß dir von dem Händler helfen.«
»Nein!«
Der Wagen kam plötzlich mit einem Ruck zum Stehen. Morgon stöhnte. Unsicher stand er auf und zog sie hoch. Das verdutzte Gesicht des Händlers blickte durch einen Spalt in der Plane nach rückwärts zu ihnen.
»Bei den Augen des Wolfskönigs, was macht Ihr dort hinten?« Er zog die Plane weiter auseinander, so daß das Licht auf sie fiel. »Schaut doch, was Ihr da mit dem bestickten Stoff angestellt habt! Ist Euch eigentlich klar, wieviel das kostet? Und der weiße Samt dort.«
Morgon hörte, wie Rendel Atem holte, um etwas zu erwidern. Er umfaßte ihre Hand und schickte seinen Geist vorwärts wie einen Anker, der an seiner Kette über das Wasser geworfen wird und versinkt, um in den Wellen einen Ruheplatz zu finden. Er fand ein stilles, sonnenbeschienenes Stück Straße, wo nur ein einsamer Musikant auf dem Rücken seines Pferdes vor sich hin trällerte, während er gen Lungold ritt. Morgon bannte Rendels Geist, so daß sie mitten im Satz innehielt, und trat mitten hinein in den Gesang.
Nur kurz standen sie auf der Straße, während der Sänger sich von ihnen entfernte, ohne sie zu bemerken. Das plötzliche Licht drehte sich in wirbelnden Kreisen um Morgon. Rendel lehnte sich mit einer überraschenden Kraft gegen die Umklammerung durch seinen Geist auf. Sie war zornig, das spürte er, und darunter voller Angst. Sie hätte seinen Bann brechen können, das wußte er plötzlich, als er den unerschöpflichen Kraftquell in ihr witterte, doch sie war zu verängstigt, um ihre Gedanken und ihre Energien zu bündeln. Formlos, weit geöffnet flog sein Geist wieder über die Straße dahin, berührte das Wesen von Pferden, eines Falken, von Krähen, die pickend um ein erloschenes Lagerfeuer hockten. Ein Bauernbursche, der sein Erbe hinter sich ließ und auf einem alten Ackergaul die Straße hinunterritt, um in Lungold sein Glück zu machen, war neuer Ankerplatz für Morgons Geist. Wieder ging Morgon vorwärts. Während sie in der Staubwolke standen, die der Ackergaul aufgewirbelt hatte, hörte Morgon sein eigenes keuchendes, erschöpftes Atmen. Irgend etwas traf mit schmerzhaften Schlägen seinen Geist, und beinahe hätte er sich gewehrt; dann aber merkte er, daß es Rendels geistiger Schrei war. Er brachte ihren Geist und den seinen zur Ruhe und blickte weit voraus, die Straße hinunter.
Ein Schmied, der von Dorf zu Dorf wanderte, Pferde beschlug und Kessel flickte, saß dösend in seinem Wagen und träumte von kühlem Bier. Morgon träumte seinen Traum mit ihm und folgte ihm durch den heißen Morgen. Rendel war seltsam still. Ein heftiges Verlangen, mit ihr zu sprechen, überkam ihn, doch er wagte nicht, seine Konzentration zu brechen.
Wieder öffnete er seinen Geist und warf ihn aus und hörte schließlich das Gelächter einer Gruppe von Händlern. Er sog es in sich ein, bis es unmittelbar neben ihm unter den Bäumen war. Und da entglitt ihm plötzlich Rendels Geist. Bestürzt suchte er nach ihm, berührte aber nur die unbestimmten Gedanken von Bäumen oder Tieren. Er konnte sie mit seinem Geist nicht finden. Als seine Konzentration zerbrach, sah er sie vor sich stehen.
Sie atmete hastig, während sie ihn anstarrte. Ihr Körper war gespannt, als wollte sie schreien oder zuschlagen.
»Noch einmal«, sagte er. »Bitte. Zum Schluß.«
Sie zögerte einen Moment, dann nickte sie. Er berührte ihre Hand und ihren Geist. Er tastete im Sonnenlicht nach kühlen Wesen: Fischen, Wasservögeln, Flußbewohnern. Der Fluß tauchte vor ihnen auf; sie standen an seinem Ufer auf einer weichen, grasbewachsenen Lichtung, von hohem Farnkraut umgeben.
Er gab Rendel frei, fiel auf Hände und Knie und trank. Die Stimme des Wassers kühlte das Brennen der Sonne, deren sengende Strahlen seinen Geist blendeten. Er blickte zu Rendel auf und wollte sprechen. Er konnte sie nicht sehen. Da streckte er sich wieder aus, das Gesicht nahe am Wasser, und schlief ein.
Mitten in der Nacht erwachte er und sah Rendel neben sich sitzen. Im sanften Schein ihres Feuers wachte sie über ihn. Lange sahen sie einander an, ohne zu sprechen, wie in Erinnerungen versunken. Dann berührte Rendel sein Gesicht. Ihre Züge waren gespannt; in ihren Augen stand ein Ausdruck, den er nie zuvor gesehen hatte.