Ein merkwürdiger Schmerz lag ihm beengend in der Kehle.
»Verzeih mir«, flüsterte er. »Es war der letzte Ausweg.«
»Es ist ja gut.« Sie prüfte den Verband auf seiner Brust; er sah, daß er aus Streifen ihres Hemdes war. »Ich habe dir Kräuter aufgelegt, wie die Schweinehirtin — ich meine Nun — sie verletzten Schweinen aufzulegen pflegte. Ich hoffe, sie tun auch bei dir ihre Wirkung.«
Er nahm ihre Hände in die seinen und hielt sie fest.
»Bitte. Sag es.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Niemand hat je zuvor meinen Geist beherrscht. Ich war so wütend auf dich, daß ich mich nur noch von dir befreien und nach Anuin zurückkehren wollte. Und dann — es gelang mir, mich zu befreien. Und ich bin bei dir geblieben, weil du — weil du um das Wesen der Macht weißt. Die Gestaltwandler, die mich ihre Verwandte nannten, besitzen dieses Wissen auch, aber dir vertraue ich.«
Sie schwieg; er wartete. Er sah sie seltsam verwandelt im Feuerschein. Die wirre Masse ihres Haares war wie frischer Seetang, ihre Haut glatt schimmernd wie Perlmutt, der Ausdruck auf ihrem Gesicht ständig wechselnd wie das Spiel des Lichts auf dem Meer.
Ganz plötzlich wandte sie ihr Gesicht von ihm ab.
»Ich will nicht, daß du mich so ansiehst!«
»Verzeih mir«, sagte er wieder. »Du hast so schön ausgesehen. Weißt du, was für eine Macht man besitzen muß, um die Fesseln eines Banns zu zerreißen, den ich gelegt habe?«
»Ja. Die Macht eines Gestaltwandlers. Und die besitze ich.«
Stumm sah er sie an. Ein feiner Schauder von Kälte durchrann ihn.
»Und diese Macht haben sie.« Abrupt setzte er sich auf, bemerkte kaum das schmerzhafte Ziehen von seiner Schulter abwärts. »Warum wenden sie sie nicht an? Sie wenden sie niemals an. Sie hätten mich längst töten sollen. In Herun hätte der Gestaltwandler Corrig mich töten können, während ich schlief; statt dessen spielte er nur auf seiner Harfe. Er forderte mich heraus, ihn zu töten. In Isig — drei Gestaltwandler brachten es nicht fertig, einen Bauernfürsten aus Hed zu töten, der in seinem Leben nie ein Schwert in der Hand gehabt hatte! Was, in Hels Namen, sind sie? Was wollen sie von mir? Was will Ghisteslohm?«
»Glaubst du, sie haben ihn getötet?«
»Ich weiß es nicht. Er war wahrscheinlich gescheit genug zu fliehen. Es wundert mich, daß wir ihn nicht neben uns im Wagen fanden.«
»Sie werden dich in Lungold suchen.«
»Ich weiß.« Er strich sich mit der Hand über das Gesicht. »Ich weiß. Vielleicht gelingt es mir mit der Hilfe der Zauberer, sie von der Stadt fortzuschicken. Ich muß schnell hin. Ich muß —«
»Ich weiß.« Sie holte einmal tief Atem und stieß müde die Luft wieder aus. »Morgon, lehre mich die Krähengestalt. Das ist wenigstens eine Maske der Könige von An. Und fliegen ist schneller als barfuß marschieren.«
Er hob den Kopf. Dann streckte er sich aus und zog sie zu sich herunter, während er versuchte, all die Gedanken in Worte zu fassen, die sich in seinem Kopf drängten.
»Ich werde lernen, auf der Harfe zu spielen«, sagte er schließlich und spürte ihr Lächeln an seiner Brust.
Seine Gedanken verdichteten sich plötzlich zu einer einzigen Erinnerung an die stockenden Klänge einer Harfe in der Finsternis. Erst als er die Hand hob, um seine Augen zu berühren, merkte er, daß er wieder weinte. Rendel war still, hielt ihn nur zärtlich umfangen.
Nach langer Zeit, als das Feuer weit heruntergebrannt war, sagte er: »Ich habe in dieser letzten Nacht nicht bei Thod gesessen, weil ich hoffte, ihn zu verstehen, sondern weil er mich dort hinzog, weil er mich dort haben wollte. Und er hielt mich nicht mit seinem Harfenspiel oder mit seinen Worten, sondern mit einer Kraft, die so mächtig war, daß sie mich über all meinen Zorn hinweg an ihn band. Ich kam, weil er es wollte. Er wollte es, deshalb kam ich. Verstehst du das?«
»Morgon, du hast ihn geliebt«, flüsterte sie. »Das war die Bindung.«
Er schwieg wieder, während er vor sich das stille, beschat-tete Gesicht jenseits der Flammen sah und dem Schweigen des Harfners lauschte, bis er den dünnen Gesang von Rätseln zu hören glaubte, die wie Spinnweben in der Dunkelheit zu einem weitverzweigten, geheimen Spiel gesponnen wurden, das seinen Tod selbst zum Rätsel machte. Schließlich benebelte eines der Kräuter, die Rendel auf seine Brust und seine Wange gelegt hatte, seinen Geist, und er schlief wieder.
Am folgenden Morgen, als sie zur Zeit der Dämmerung erwachten, lehne er sie die Krähengestalt. Er trat in ihren Geist ein, fand tief in seinem Inneren Bilder von Krähen, Geschichten von ihnen, Erinnerungen, von denen sie kaum wußte, daß sie vorhanden waren; die unergründlichen, krähenschwarzen Augen ihres Vaters, Krähen unter Eichen, die Raiths Schweineherden umringten, Krähen, die durch die Geschichte von An flogen, Totenvögel, Botenvögel, Grabwächter, und ihre Stimmen waren voll von Spott, voll grimmiger Warnung und voll Poesie.
»Woher sind die alle gekommen?« murmelte sie erstaunt.
»Sie gehören zum Landrecht von An. Sie sind ein Teil der Kraft und des Herzens von An. Nicht mehr.«
Eine schläfrige Krähe rief nach ihr von einem der Bäume herunter, die um sie herum standen; sie landete auf seinem Arm.
»Kannst du in meinen Geist eintreten? Hinter meine Augen in meine Gedanken sehen?«
»Ich weiß nicht.«
»Versuch es. Es wird dir nicht schwerfallen.«
Er öffnete seinen Geist dem der Krähe, sog ihn in sich hinein, bis er sein eigenes verwischtes, namenloses Gesicht aus ihren Augen sah. Unter welkem Laub, unter Eichenwurzeln hörte er das Rascheln und Knistern von Bewegung, so klar und präzise wie die Töne einer Flöte. Er fing an, die Sprache der Krähe zu verstehen. Sie krächzte einmal kurz, mehr neugierig als ungeduldig. Dann füllte sich sein Geist mit einer Bewußtheit von Rendel, so als wäre sie in ihm, berührte ihn sanft, durchflutete ihn wie Licht. Einen Moment lang nährten sich die drei Wesen furchtlos, suchend voneinander. Dann schrie die Krähe auf; ihre Schwingen rauschten schwarz an Morgons Augen vorüber. Er war allein in seinem Geist, suchte tastend nach etwas, das aus ihm entwichen war. Eine Krähe flatterte auf und landete auf seiner Schulter. Er sah ihr in die Augen.
Er lächelte langsam. Mit ungeschickt flatternden Schwingen schwang sich die Krähe zu einem hohen Ast hinauf. Sie verfehlte ihn, als sie landen wollte. Dann fing sie sich, und die feine Ausgewogenheit von Instinkt und Verstand in ihr geriet ins Schwanken. Aus der Krähe wurde Rendel.
Atemlos und verdutzt blickte sie auf Morgon hinunter.
»Hör auf zu lachen. Morgon, ich bin geflogen. Und wie, in Hels Namen, komm ich da jetzt wieder hinunter?«
»Flieg.«
»Ich weiß nicht mehr, wie das geht.«
Er flog zu ihr hinauf. Die Schwinge über der nur halb verheilten Wunde war steif. Er verwandelte sich wieder in seine natürliche Gestalt. Warnend ächzte der Ast unter seinem Gewicht.
»Gleich fallen wir in den Fluß!« schrie sie auf. »Morgon, der Ast bricht —«
Mit einem Krächzen flatterte sie wieder auf. Morgon folgte ihr. Sie zogen schwarze Linien durch das Licht des Sonnenaufgangs, erhoben sich hoch über die Wälder, unter sich endloses dunkles Grün und das helle Band der Straße, die es auf ihrem Weg quer durch das ganze Reich durchschnitt. Sie stiegen so weit in die Lüfte, daß die Wagen der Händler nur noch winzige, mühsam dahinkriechende Insekten waren. Sie ließen sich langsam abwärts fallen, kreisten miteinander, während ihre Flügel im gleichen gemächlichen Rhythmus schlugen und sie immer kleiner werdende Ringe in das Sonnenlicht schnitten, bis sie schließlich dicht über dem Fluß einen letzten schwarzen Kreis zogen. Sie landeten im Farnkraut am Ufer und wechselten die Gestalt. Wortlos blickten sie einander an.