»Deine Augen sind voll des Flugs«, flüsterte Rendel.
»Deine Augen sind voll der Sonne.«
Zwei Wochen lang flogen sie in Krähengestalt. Die stillen, goldenen Eichenwälder wichen am Rand des Hinterlands unter ihnen zurück. Die Straße machte einen Knick, wandte sich nordwärts durch üppige, dunkle Fichtenwälder, deren Schweigen unberührt schien vom Lauf der Jahrhunderte. Sie wand sich kahle, steinige Hügel hinauf, die in der Mittagssonne wie heißes Messing schimmerten, überspannte Schluchten, auf deren Grund silbernes Wasser aus den Lungoldseen blitzte und schäumend gegen steile Felswände schlug. Die Bäume verschmolzen unter den Augen der Krähen zu einem dunkelgrünen Schleier, der sanft wogend dem schwachen blauen Dunst der Berge entgegenwehte, die die fernen westlichen Ränder des Hinterlandes begrenzten. Bei Tag erhitzte die Sonne den Himmel zu einem harten, metallischen Blau. Die Nacht bestreute ihn von einem Horizont zum anderen, bis hinunter zum Rand der Welt mit glitzernden Sternen. Die Stimmen des Hinterlands, die Stimmen von Erde und Stein und uralten, ungezähmten Winden waren wie die Ewigkeit. Unter ihnen lag eine Stille, die so unerbittlich war wie Granit. Morgon fühlte sie, während er flog; er sog sie mit seinem Atem in seine Knochen ein, spürte ihre fremde, kalte Berührung an seinem Herzen. Zu Beginn versuchte er, ihr zu entrinnen, versuchte, Rendels Geist zu erreichen, um die unbestimmte, unartikulierte Sprache teilen zu können. Dann aber verwob sich die Stille langsam mit dem Rhythmus seines Flugs und wurde ihm schließlich zum Gesang. Endlich, als er sich kaum noch seiner eigenen Sprache erinnerte und Rendel nur noch als einen dunklen, vom Wind gemeißelten Schatten kannte, sah er, daß sich die Bäume vor ihnen teilten. In der Ferne leuchtete an den Gestaden des ersten der Lungoldseen die wunderbare Stadt, die Ghisteslohm gegründet hatte. Kupfer und Bronze und Gold erglänzten in den letzten Strahlen der Sonne.
Mit müdem Flügelschlag näherten sich die Krähen ihrem Ziel. Rund um die Stadt waren die Wälder meilenweit zurückgedrängt, um Feldern, Weiden und Obstpflanzungen Raum zu geben. Der kühle Duft der Fichten wich dem Geruch frisch gepflügter Erde und reifenden Getreides. Von Schatten gefleckt war das letzte Stück zerfurchter Straße, das in die Stadt hineinführte. Das Stadttor war ein anmutiger, sich hoch emporwölbender Bogen aus glänzendem, dunklem Holz und weißem Stein. Die Stadtmauern waren gewaltig und von ungeheurer Dicke, von Strebepfeilern aus Holz und Stein getragen, die sich hoch über die Gebäude jenseits der alten Grenzen der Stadt emporschwangen. Neuere Straßen hatten Breschen in die alten Mauern geschlagen; kleinere Tore waren in sie eingelassen; Häuser und Läden waren an den Mauern gewachsen und sogar auf ihnen, als hätten ihre Erbauer die Angst und das Entsetzen längst vergessen, das sieben Jahrhunderte zuvor die Mauern errichtet hatte.
Die Krähen erreichten das Haupttor, rasteten unter den Bögen. Die Torflügel sahen aus, als wären sie seit Jahrhunderten nicht mehr geschlossen worden. Sie waren aus massiver Eiche, mit Bronze beschlagen, in bronzenen Angeln aufgehängt. Vögel nisteten auf den Angeln. Innerhalb der Mauern verzweigte sich ein Gewirr kopfsteingepflasterter Straßen in alle Richtungen; leuchtend bemalte Gasthäuser wechselten ab mit Zunfthäusern, Kaufläden und Werkstätten von Handwerkern, Wohnhäusern, deren Fenster mit Blumen geschmückt waren. Morgon schwang seinen Blick über seine Krähenaugen hinaus und spähte über Dächer und Kamine hinweg zum Nordrand der Stadt. Die untergehende Sonne lag leuchtend auf dem Weg, entzündete ihn in rotgoldenem Feuer, bis die Fischerboote, die an den Docks vertäut lagen, auf dem Wasser zu brennen schienen.
In der Nische zwischen dem offenen Torflügel und der Stadtmauer flatterte er zu Boden und wechselte die Gestalt. Rendel folgte ihm. Sie standen da und sahen einander an. Ihre Gesichter waren schmal und mager, geprägt von der Wildnis und der Stille des Hinterlandes. Ihre eigenen Körper waren ihnen selbst halb fremd. Dann fiel Morgon ein, daß er einen Arm hatte, und er legte ihn um Rendels Schultern und küßte sie beinahe zaghaft. Langsam kam wieder Ausdruck in ihre Züge.
»Was, in Hels Namen, haben wir getan?« flüsterte sie. »Morgon, mir ist, als hätte ich hundert Jahre lang geträumt.«
»Nur zwei Wochen. Wir sind in Lungold.«
»Laß uns nach Hause zurückkehren.« Dann trat ein seltsamer Ausdruck in ihre Augen. »Was haben wir gegessen?«
»Denk nicht daran.«
Er lauschte. Durch das offene Tor kamen kaum noch Wagen; er hörte nur einen gemächlich trottenden Reiter, der wie eine Vorhut des Zwielichts in die Stadt kam. Morgon nahm Rendels Hand.
»Komm, gehen wir.«
»Wohin?«
»Riechst du es nicht? Es ist da, an den Rändern meiner Wahrnehmung. Ein Gestank nach Macht.«
Er zog ihn durch die gewundenen Straßen. Die Stadt war ruhig, die Menschen saßen beim Essen; die verlockenden Düfte, die aus den Gasthäusern drangen, machten ihnen den Mund wäßrig. Aber sie hatten kein Geld, sahen beinahe aus wie Bettler in ihren abgerissenen Kleidern. Der giftige Hauch verfallener, mißbrauchter Macht zog Morgon zum Herzen der Stadt, durch breite Straßen, die von eleganten Läden und den Häusern wohlhabender Händler gesäumt waren. In der Mitte der Stadt stiegen die Straßen an. Auf dem Gipfelpunkt der Anhöhe verloren sich die prächtigen Häuser. Die Straßen endeten abrupt. Auf einer weiten, verwüsteten Fläche Landes erhob sich die steinerne Hülle der uralten Schule, einstmals aus der Macht und der Kunst der Zauberer erschaffen. Ihre verfallenen, leeren Mauern leuchteten im letzten Licht.
Morgon blieb stehen. Eine seltsame Sehnsucht regte sich schmerzhaft in ihm, als hätte er einen Blick auf etwas getan, das er niemals besitzen konnte und von dem er nie zuvor gewußt hatte, daß er es würde besitzen wollen. Ungläubig sagte er: »Kein Wunder, daß sie kamen. Er hat ihr eine solche Schönheit gegeben.«
In riesigen, halbzerstörten Sälen enthüllte sich ihnen der Reichtum des Reiches. Geborstene Fenster mit zackig gebrochenen Scheiben, die in den Farben von Edelsteinen leuchteten, waren in Gold gerahmt. An den inneren Wänden, die von Feuer geschwärzt* waren, erinnerten halbverkohlte Balken aus heller Esche und Ebenholz, aus Eiche und Zeder noch an kostbare Täfelungen. Hier und dort blitzten an einem vom Feuer angefressenen, umgestürzten Pfeiler noch Beschläge aus Kupfer und Bronze. Hohe Bogenfenster, durch die die Regenbogenstrahlen gebrochenen Lichts fielen, ließen die Illusion von Frieden und Beschaulichkeit ahnen, die die rastlosen, getriebenen Geister, die in der Schule Zuflucht gesucht hatten, eingelullt hatte. Über sieben Jahrhunderte hinweg spürte Morgon ihren Trug und ihre Verheißung — hier hatten sich die begabtesten und mächtigsten Männer und Frauen des Reiches eingefunden, um ihr Wissen miteinander zu teilen, um ihre geistigen Kräfte zu erforschen und beherrschen zu lernen. Wieder bedrängte jene unbestimmte Sehnsucht sein Herz; er konnte ihr keinen Namen geben. Schweigend stand er da und blickte auf die tote Schule, bis Rendel ihn berührte.
»Was ist?«
»Ich weiß nicht. Ich wünschte — ich wünschte, ich hätte hier studieren können. Die einzige Kraft, die ich je kennengelernt habe, ist die Ghisteslohms.«
»Die Zauberer werden dir helfen«, sagte sie, aber darin fand er keinen Trost.
Er sah sie an.
»Würdest du mir einen Gefallen tun? Nimm wieder Krähengestalt an. Ich trage dich auf meiner Schulter, während ich sie suche. Ich weiß nicht, was für Fallen oder Bannsprüche hier noch verwurzelt sind.«
Sie nickte müde, ohne etwas zu sagen, und verwandelte sich. Sie hockte sich auf seine Schulter, dicht an sein Ohr, und er trat auf das Gelände der Schule. Nirgends wuchsen Bäume; Gras wucherte nur stellenweise in den weißen Furchen versengter Erde. Zertrümmerte Steine lagen noch dort, wo sie niedergefallen waren, bargen tief in ihrem Inneren noch immer eine brennende Erinnerung der Macht. Seit Jahrhunderten war hier nichts berührt worden. Morgon fühlte es, als er sich dem Schulgebäude selbst näherte. Der schreckliche Hauch der Zerstörung hing wie eine Warnung über all der Pracht. Er schritt leise vorwärts, öffnete seinen Geist, um ihn in die stillen Hallen vorauseilen zu lassen.