Lautlos holte er Atem und hielt die Luft an. Nur eine Möglichkeit der Erklärung bot sich ihm dar: ein Paradox der Zauberei. Er hatte keine andere Wahl, als kehrtzumachen und zu gehen. Er ließ seine Fackel zu Boden fallen und sah zu, wie sie in Schwärze erlosch. Wie lange er so stand und mit der Dunkelheit rang, wußte er nicht. Je mehr er sich anstrengte zu sehen, desto mehr wurde er sich seiner Blindheit bewußt. Schließlich hob er die Hände und drückte sie über seine Augen. Er fröstelte wieder; die Finsternis schien über ihm zu kauern wie ein unermeßlich großes, erdrückendes Geschöpf. Doch er konnte nicht gehen; stumm, starrsinnig stand er da und hoffte auf Hilfe.
Eine Stimme beinahe direkt neben ihm sagte: »Die Nacht ist nicht etwas, das man bis Tagesanbruch erträgt. Sie ist ein Element wie der Wind oder das Feuer. Die Finsternis ist ihr eigenes Königreich; sie richtet sich nach ihren eigenen Gesetzen, und viele lebende Dinge wohnen in ihr. Ihr versucht, Euren Geist von ihr zu trennen. Das ist fruchtlos. Nehmt die Gesetze der Finsternis an.«
»Das kann ich nicht.«
Er ließ die Hände sinken und ballte sie zu Fäusten. Reglos wartete er.
»Versucht es.«
Seine Hände verkrampften sich; Schweiß brannte in seinen Augen.
»Ich kann gegen den Gründer kämpfen, aber ich habe nie von ihm gelernt, wie ich gegen das hier kämpfen soll.«
»Ihr habt den Zauber meiner Täuschung durchbrochen, als existierte er kaum.« Die Stimme war ruhig, und doch klirrte sie wie Stahl. »Ich habe ihn mit all der Kraft, die ich noch besitze, aufrechtzuerhalten versucht. Es gibt nur zwei andere, die ihn hätten durchbrechen können. Und Ihr seid machtvoller als jeder dieser beiden. Sternenträger, ich bin Iff.« Darauf sprach er seinen ganzen Namen, eine Reihe klirrender Silben, die dennoch einen fließenden, melodischen Klang hatten. »Ihr habt mich aus der Macht des Gründers befreit, und ich stelle mich in Eure Dienste bis an mein Lebensende. Könnt Ihr mich sehen?«
»Nein«, flüsterte Morgon. »Aber ich möchte gern.«
Sterne aus Fackellicht ergossen sich in einem Lichtbogen über ihn. Das Gefühl unendlicher Weite schmolz dahin. Die sachte, stumme Erkenntnis von etwas, das nicht wirklich war, das wie eine Erinnerung war, die an den Rändern seines Bewußtseins zupfte, war sehr intensiv. Dann sah er einen Totenkopf, der ihn mit rätselhaftem Blick ansah, und dann noch einen, mitten in einem Haufen von Gebeinen. Die unterirdische Kammer, in der er sich befand, war kreisrund; die feuchten Wände aus lebendiger Erde waren gespickt mit tiefen Spalten. Das Haar in seinem Nacken stellte sich auf. Er befand sich in einer Gruft, die unter der großen, alten Schule verborgen war, und er hatte die letzten lebenden Zauberer von Lungold beim Begräbnis ihrer Toten gestört.
Kap. 7
Er erkannte Nun sofort; eine große, dürre Frau mit langem, grauem Haar und einem klugen, kantigen Gesicht. Sie rauchte eine kleine edelsteinblitzende Pfeife; ihre Augen, die ihn mit einer seltsamen Mischung aus Staunen und Beunruhigung betrachteten, waren eine Schattierung dunkler als der Rauch. Hinter ihr im Fackellicht stand ein hochgewachsener, hagerer Zauberer, dessen breites, edel geschnittenes Gesicht von Schlachten gezeichnet war wie das eines Königs. Sein weißes Haar war mit silbernen und goldenen Lichtern gesprenkelt; in den lebhaften Augen schwelten blaue Flammen. Er blickte Morgon aus den Tiefen der Vergangenheit an, als hätten drei Sterne in der Dunkelheit einen flüchtigen Moment lang vergessene Jahrhunderte vor seinen Augen aufblitzen lassen.
Vor einer der Spalten in der Mauer kniete ein dunkeläugiger Zauberer mit einem spitzen Gesicht, das an einen Raubvogel erinnerte. Er schien grimmig und humorlos, bis Morgon seinem Blick begegnete und ein feines Lächeln, wie über irgendeine Ungereimtheit, sah. Morgon wandte sich dem hochgewachsenen, hageren Zauberer an seiner Seite zu, der die Stimme eines Meisters von Caithnard hatte. Sein Gesicht war abgezehrt wie das eines Asketen, doch Morgon, der ihn aufmerksam betrachtete, als er nähertrat, spürte die unerwartete Kraft und die Stärke in seinem mageren Körper. Fragend sagte er: »Iff?«
»Ja.«
Seine Hand glitt sehr behutsam zu Morgons Schulter hinauf und nahm die Krähe. Morgon mußte plötzlich an die Bücher denken, die die Morgol von Herun nach Caithnard gebracht hatte. Zeichnungen wilder Blumen hatten die Ränder der Seiten geschmückt.
»Ihr seid der Gelehrte, der die wilden Geschöpfe liebt.«
Der Zauberer blickte von der Krähe auf; sein Gesicht zeigte Überraschung, wirkte plötzlich sehr weich. Die Krähe starrte ihn aus dunklen Augen an, und keine Feder ihres Kleides regte sich. Der Zauberer mit dem Habichtsgesicht schob den Totenschädel, den er in Händen hielt, in eine Spalte und kam durch die Kammer.
»Vor nicht allzu langer Zeit sandten wir eine Krähe, die dieser sehr ähnlich war, nach Anuin zurück.«
Seine Stimme war wie seine Augen, scharf und geduldig zugleich.
»Rendel!« rief Nun. »Was, in Hels Namen, tust du hier?«
Iff machte ein verdutztes Gesicht. Er setzte die Krähe wieder auf Morgons Schulter und sagte zu ihr: »Verzeiht mir.« Zu Morgon gewandt fügte er hinzu: »Eure Gemahlin?«
»Nein. Sie weigert sich, mich zu heiraten. Und sie weigert sich auch, nach Hause zurückzukehren. Aber sie ist imstande, auf sich selbst aufzupassen.«
»Gegen Ghisteslohm?«
Ein Falkenauge traf einen Moment lang die Augen der Krähe, die nervös wieder unter Morgons Haar schlüpfte.
Er verspürte plötzlich ein Verlangen, den Vogel zu nehmen und ihn unter seinem Kittel, an seinem Herzen zu verbergen. Die dünnen Brauen des Zauberers waren hochgezogen.
»Jahrhundertelang habe ich den Königen von An und Aura gedient. Nach der Zerstörung von Lungold wurde ich ein Falke, der immer wieder gefangen wurde und in der Gefangenschaft alterte und entwischte, um sich wieder zu verjüngen. Jahrhundertelang trug ich Fessel und Haube und reiste auf den Winden, um immer wieder in die Hände der Könige von Anuin zurückzukehren. Nicht einer von ihnen, nicht einmal Mathom von An, besaß die Gabe, hinter meine Augen zu sehen. In ihr wohnt eine großartige, rastlose Kraft. Sie erinnert mich an jemanden, die Erinnerung eines Falken ist es.«
Morgon streichelte die Krähe sachte, unsicher ob des Schweigens.
»Sie wird es Euch sagen«, erklärte er schließlich, und der Ausdruck auf dem alten, stolzen Gesicht veränderte sich.
»Hat sie Angst vor uns? Aus welchem denkbaren Grund? In Falkengestalt nahm ich Fleisch aus ihres Vaters nackter Hand.«
»Ihr seid Talies«, sagte Morgon plötzlich, und der Zauberer nickte. »Der Geschichtskundige. In Caithnard habe ich gelesen, was Ihr über Hed geschrieben habt.«
»Nun«, die scharfen Augen lächelten beinahe wieder, »ich habe das vor vielen Jahrhunderten geschrieben. Zweifellos hat Hed sich seitdem verändert, wenn es neben Ackergäulen und Bier den Sternenträger hervorbringen kann.«
»Nein. Wenn Ihr zurückkehrtet, würdet Ihr es wiedererkennen.« Die Toten von An fielen ihm ein, und seine Stimme gehorchte ihm nicht mehr ganz. Er wandte sich dem Zauberer zu, der wie ein Krieger aus Ymris gebaut war. »Und Ihr seid Aloil. Der Poet. Ihr habt Liebeslieder für —« Wieder versagte ihm die Stimme, diesmal vor Verlegenheit.
Doch Nun lächelte. »Man stelle sich vor, daß jemand sich dessen nach tausend Jahren und mehr noch erinnert. Ihr wurdet gut gebildet in dieser Schule.«
»Die Schriften der Zauberer von Lungold — jene, die nicht hier zerstört wurden — bildeten die Grundlage der Rätselkunst.« Er verspürte eine plötzliche Frage in Aloils Geist und fügte hinzu: »Ein Teil Eures Werks ist in Caithnard, der Rest in der Bibliothek des Königs in Caerweddin. Astrin Ymris besaß den größten Teil Eurer Lieder und Gedichte.«