»Lieder und Gedichte.« Der Zauberer fuhr sich mit knorriger Hand durch das Haar. »Sie hätten hier zerstört werden sollen. Mehr waren sie kaum wert. Ihr kommt hierher und bringt uns Erinnerungen aus einem Reich, das wir als Lebendige nie wiedersehen werden. Wir sind hierhergekommen, um Ghisteslohm zu töten oder zu sterben.«
»Ich nicht«, entgegnete Morgon leise. »Ich bin hergekommen, um dem Gründer Fragen zu stellen.«
Der nach innen gewandte Blick des Zauberers schien sich loszureißen von den Bildern der Erinnerung und wandte sich ihm zu.
»Fragen!«
»Das ist doch angemessen«, sagte Nun beschwichtigend. »Er ist ein Rätselmeister.«
»Was hat die Rätselkunst mit alledem zu tun?«
»Nun.«
Ihre Zähne bissen wieder auf die Pfeife, und sie paffte einen Strom kleiner, hastig emporschießender Wölkchen in die Luft, ohne zu antworten.
»Besitzt Ihr die Kraft?« fragte Iff, den Sinn auf das Praktische gerichtet.
»Ihn zu töten? Ja. Um seinen Geist in Besitz zu nehmen und ihm all das Wissen zu entreißen, das ich brauche — ich weiß es nicht. Ich werde die Kraft finden. Tot hilft er mir nichts. Aber ich kann nicht gleichzeitig gegen die Gestaltwandler kämpfen. Und ich bin mir nicht sicher, wieviel Macht sie besitzen.«
»Ich muß sagen, Ihr kompliziert die Dinge«, murmelte Nun. »Wir sind in so simpler Absicht hierhergekommen.«
»Ich brauche Euch lebendig.«
»Nun, es ist angenehm, gebraucht zu werden. Seht Euch um.« Das Licht des Feuers schien ihrer Hand zu folgen, als sie eine ausholende Bewegung machte. »Vor sieben Jahrhunderten haben hier neunundzwanzig Zauberer und über zweihundert Männer und Frauen mit großer Begabung studiert. Und von diesen begraben wir jetzt zweihundertvierundzwanzig. Zweihundertdreiundzwanzig, wenn wir Suth nicht zählen. Und Ihr wißt ja, wie er gestorben ist. Ihr seid durch dieses Haus gewandert. Es ist eine einzige große Totengruft der Zauberkunst. Noch immer wohnt Kraft in den ausgebleichten Gebeinen; das ist der Grund, weshalb wir sie begraben. In den kommenden Jahrhunderten sollen nicht kleine Hexen und Hexer des Reiches hier zusammenströmen, um nach Knochen und Knöchelchen zu suchen, die ihren Zaubersprüchen bindende Kraft geben. Die Toten von Lungold verdienen Frieden. Ich weiß, daß Ihr GhisteslohmA Macht gebrochen habt, um uns zu befreien. Doch als Ihr an seiner Statt diesen Harfner verfolgtet, gabt Ihr ihm Zeit, seine Macht zu erneuern. Seid Ihr jetzt so sicher, daß Ihr eine zweite Zerstörung verhindern könnt?«
»Nein. Ich weiß nichts mit Sicherheit. Nicht einmal meinen eigenen Namen, deshalb wandere ich von Rätsel zu Rätsel. Ghisteslohm erbaute und zerstörte Lungold wegen dieser Sterne.« Er strich sein Haar zurück. »Sie trieben mich aus Hed fort und in seine Hände. Wären sie nicht gewesen, so wäre ich für immer in Hed geblieben, wäre es zufrieden gewesen, Bier zu brauen und Ackergäule zu züchten, hätte nie erfahren, daß Ihr am Leben seid oder daß der Erhabene im Erlenstern-Berg eine Lüge war. Ich muß wissen, was diese Sterne bedeuten und was sie sind. Ich muß wissen, warum Ghisteslohm den Erhabe-nen nicht fürchtete. Warum er mich lebend möchte, machtvoll, doch gefangen. Ich möchte wissen, was das für eine Macht ist, in die er mich, wie er sagte, blind hineinstolpern sieht. Wenn ich ihn töte, dann wird das Reich ihn los sein, doch ich werde weiterhin vor Fragen stehen, die keiner je beantworten wird — wie ein Verhungerter, der Goldgruben besitzt in einem Land, wo Gold nichts gilt. Begreift Ihr das?« fragte er Aloil plötzlich und sah in den stämmigen Schultern, dem harten, wettergegerbten Gesicht den mächtigen, knorrigen Baum, in dessen Gestalt der Zauberer sieben Jahrhunderte lang auf der Ebene von Königsmund gestanden hatte.
»Ich begreife«, sagte der Zauberer leise, »wo ich siebenhundert Jahre lang gewesen bin. Stellt ihm Eure Fragen. Und wenn Ihr dann sterbt oder wenn Ihr ihn entkommen laßt, werde ich ihn töten oder selbst sterben. Ihr wißt um die Rache. Was die Sterne auf Eurem Gesicht angeht. Ich weiß nicht einmal, wie ich es anfangen soll, Hoffnung in sie zu setzen. Ich begreife nicht alle Eure Handlungen. Wenn wir lebendigen Leibes aus Lungold hinausgehen, werde ich die Notwendigkeit sehen, sie zu begreifen: insbesondere die geistige Gabe und den Anlaß, die Euch trieben, in das Landrecht von An einzugreifen. Jetzt jedoch. Ihr habt uns befreit, Ihr habt unsere Namen aus den Tiefen der Erinnerung emporgezogen, Ihr habt Euren Weg hier herunter gefunden, um mit uns unter unseren Toten zu stehen. Ihr seid ein junger, müder Fürst von Hed mit einem blutbefleckten Kittel und einer Krähe auf Eurer Schulter und einer Kraft hinter Euren Augen, die direkt aus dem Herzen Ghisteslohms kommt. Mußte ich Euretwegen sieben Jahrhunderte in Gestalt einer Eiche zubringen und in den Meereswind starren?
Was ist das für eine Freiheit oder für ein Verhängnis, in das Ihr uns zurückgeholt habt?«
»Ich weiß es nicht.« Sein Hals schmerzte. »Ich werde Euch eine Antwort finden.«
»Das werdet Ihr.« Der Tonfall der Stimme veränderte sich plötzlich, wurde nachdenklich und verwundert. »Das werdet Ihr, Rätselmeister. Ihr versprecht uns nicht Hoffnung.«
»Nein. Die Wahrheit. Wenn ich sie finden kann.«
Es wurde still. Nuns Pfeife war ausgegangen. Ihre Lippen waren ein wenig geöffnet, als sähe sie zu, wie ein verwischter, undeutlicher Schatten vor ihr langsam Gestalt annahm.
»Beinahe«, flüsterte sie, »macht Ihr mich hoffen. Aber in Hels Namen, worauf?«
Dann riß sie sich aus ihren Gedanken und legte ihren Finger auf Morgons Kittel, teilte ihn dort auseinander, wo er zerrissen war, um die Narbe darunter zu betrachten.
»Ihr hattet Schwierigkeiten unterwegs. Das habt Ihr Euch nicht in Krähengestalt geholt.«
»Nein.« Er verstummte, wollte nicht fortfahren, doch sie warteten auf eine Antwort. Leise, voller Bitterkeit, das Gesicht zu Boden gerichtet, sagte er: »Ich folgte eines Nachts Thods Harfenspiel und wanderte geraden Wegs in ein neues Netz von Verrat.« Nicht ein Laut war in der Kammer zu hören. »Ghisteslohm suchte mich auf der Handelsstraße. Und er fand mich. Er nahm Rendel gefangen, so daß ich mich nicht gegen ihn zur Wehr setzen konnte. Er wollte mich in den Erlenstern-Berg zurückbringen. Doch fanden uns die Gestaltwandler. Ich entkam ihnen —« er berührte die Narbe in seinem Gesicht »— um Haaresbreite. Ich verbarg mich hinter Trug und Tauschung und entrann. Seit wir fliegen, habe ich keinen von ihnen mehr gesehen. Vielleicht haben sie sich alle gegenseitig getötet. Doch ich bezweifle es —« Er empfand ihr Schweigen wie einen Bann, der ihn bedrängte, der ihm die Worte aus der Seele zog, und fügte hinzu: »Der Erhabene tötete seinen Harfner.«
Er schüttelte ein wenig den Kopf, während er sich aus ihrem Schweigen zurückzog. Er war nicht fähig, ihnen mehr zu geben. Er hörte, wie Iff Atem holte, spürte die kundige, beruhigende Berührung des Zauberers.
Talies sagte abrupt: »Wo war Yrth, während dies alles geschah?«
Morgons Augen hoben sich von einem Knochensplitter auf dem Boden. »Yrth?«
»Er war mit Euch auf der Handelsstraße.«
»Niemand war —« Er hielt inne. Ein Hauch von Nachtluft wehte kühl durch die Kammer; das Licht flackerte. »Niemand war bei uns.« Dann fiel ihm der Große Schrei ein, der aus dem Nichts gekommen war, und die geheimnisvolle, reglose Gestalt, die ihn in der Nacht angesehen hatte. Ungläubig flüsterte er: »Yrth?«
Die Zauberer sahen einander an.
»Er ging aus Lungold fort«, erklärte Nun, »um Euch zu finden, um Euch Hilfe zu geben, soweit es in seiner Macht stand. Und Ihr habt ihn nie gesehen?«
»Doch, einmal — mag sein, daß ich ihn einmal gesehen habe, als ich Hilfe brauchte. Es muß Yrth gewesen sein. Er hat sich mir nie zu erkennen gegeben. Es ist möglich, daß er mich verloren hat, als wir zu fliegen begannen.« Er schwieg, während er zurückdachte. »Es gab einen Augenblick, nachdem das Pferd mich getreten hatte, als ich das Gespinst der Täuschung, mit dem ich mich umgeben hatte, kaum noch festhalten konnte. In diesem Augenblick hätten die Gestaltwandler mich töten können. Sie hätten mich töten müssen. Ich erwartete es. Doch nichts rührte mich an. Es kann sein, daß er da war, um mein Leben zu retten. Doch wenn er dort geblieben ist, nachdem ich geflohen war —«