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»Zweifellos hätte er es uns wissen lassen«, meinte Nun, »wenn er Hilfe gebraucht hätte.« Sie strich sich mit schwieliger Hand sorgenvoll über die Stirn. »Aber wo mag er wohl sein? Ein alter Mann, der die Handelsstraße auf und ab wandelt und Euch sucht, genau wie der Gründer und die Gestaltwandler.«

»Er hätte sich mir zeigen sollen. Wenn er Hilfe gebraucht hätte, hätte ich für ihn kämpfen können; das ist der Grund, weshalb ich gekommen bin.«

»Ihr hättet auch um seinetwillen Euer Leben verlieren können. Nein.« Sie schien ihre eigenen zweifelnden Fragen zu beantworten. »Er wird kommen, wann es ihm paßt. Vielleicht ist er geblieben, um den Harfner zu begraben. Yrth hat ihn einst Lieder auf der Harfe gelehrt, hier in dieser Schule.«

Sie schwieg wieder, während Morgon zusah, wie zwei verstümmelte Totengesichter an der fernen Wand näher und näher zusammenrückten. Er schloß die Augen, bevor sie miteinander verschmolzen. Aus der Ferne hörte er die Krähe schreien; eine Hand, die schmerzhaft seine Schulter packte, verhinderte, daß er stürzte. Als er die Augen öffnete, tauchte sein Blick in die funkelnden Falkenaugen, und er spürte den kalten Schweiß, der plötzlich auf seinem Gesicht lag.

»Ich bin müde«, sagte er.

»Mit Grund.« Iff ließ ihn los. Sein Gesicht war durchzogen von einem Netzwerk haarfeiner Linien. »In der Küche gibt es Wild am Spieß — das ist der einzige Raum, der noch vier Wände und ein Dach hat. Wir haben hier unten geschlafen, aber neben dem Herd sind Matratzen. Vor der Tür steht eine Wache.«

»Eine Wache?«

»Eine der Wachen der Morgol. Die Morgol hat sie uns zur Verfügung gestellt.«

»Ist die Morgol noch hier?«

»Nein. Sie widersetzte sich hartnäckig allen Argumenten, die wir vorbrachten, um sie zur Heimkehr zu bewegen, bis sie plötzlich vor etwa zwei Wochen ohne jede Erklärung nach Herun zurückkehrte.« Er hob seine Hand und holte eine Fackel aus Luft und Dunkelheit. »Kommt. Ich zeige Euch den Weg.«

Morgon folgte ihm schweigend durch zerstörte Räume eine gewundene Steintreppe hinunter zur Küche. Der Duft des Fleisches, das über dem zu Asche heruntergebrannten Feuer langsam abkühlte, gab ihm das Gefühl, als wären selbst seine Knochen hohl. Er setzte sich an dem langen, halbverkohlten Tisch nieder, während Iff ein Messer suchte und zwei angeschlagene Becher hinstellte.

»Wir haben Wein, Brot, Käse, Früchte — die Wachen sorgen gut für uns.« Er sprach nicht gleich weiter, sondern glättete eine Feder an der Schwinge der Krähe. »Morgon«, sagte er dann leise, »ich habe keine Ahnung, was der neue Tag bringen wird. Aber wenn Ihr Euch nicht entschlossen hättet, hierherzukommen, sähen wir jetzt dem sicheren Tod ins Auge. Jener Funke blinder Hoffnung, der uns über sieben Jahrhunderte am Leben hielt, muß von Euch genährt worden sein. Ihr mögt Angst haben zu hoffen, ich nicht.« Seine Hand berührte flüchtig Morgons vernarbte Wange. »Dank Euch, daß Ihr gekommen seid.« Er richtete sich auf. »Ich lasse Euch jetzt hier allein; wir arbeiten die Nächte durch und schlafen selten. Wenn Ihr uns braucht, dann ruft.«

Er warf seine Fackel in die Feuerstelle und ging. Morgon starrte auf die Tischplatte hinunter, auf den reglosen Schatten der Krähe, der auf dem Holz lag. Schließlich hob er den Kopf und sagte ihren Namen. Wieder schien sie die Gestalt wechseln zu wollen; ihre Schwingen hoben sich, und sie flog von seiner Schulter. Doch da öffnete sich abrupt die Außentür zur Küche. Die Wache trat ein — eine junge, dunkelhaarige Frau, die so vertraut und doch so unvertraut war, daß Morgon sie nur offenen Mundes anstarren konnte. Wie angewurzelt blieb sie stehen, als sie den Raum schon halb durchquert hatte, und sah ihn aus großen, aufgerissenen Augen an. Er sah, wie sie schluckte.

»Morgon?«

Er stand auf. »Lyra!«

Sie war gewachsen; ihr Körper wirkte lang und biegsam in dem kurzen, dunklen Kittel. Das im Schatten dunkle Gesicht war halb das des Kindes, an das er sich erinnerte, und halb das der Morgol. Es war, als könnte sie sich nicht bewegen. Deshalb ging er zu ihr. Als er sich näherte, sah er, wie ihre Hand am Speer sich regte. Mitten im Schritt blieb er stehen.

»Ich bin es«, sagte er.

»Ich weiß.« Sie schluckte wieder. Ihre Augen waren noch immer ungläubig und sehr dunkel. »Wie — wie seid Ihr in die Stadt gekommen? Keiner hat Euch gesehen.«

»Habt Ihr denn eine Wache auf den Mauern?«

Sie nickte. »Eine andere Verteidigung hat die Stadt nicht. Die Morgol hat uns holen lassen.«

»Dich! Ihre Landerbin.«

Ihr Kinn hob sich in einer Bewegung, an die er sich erinnerte.

»Ich bin aus einem bestimmten Grund hiergeblieben. Ich habe hier etwas zu tun.«

Erst da ging sie langsam auf ihn zu, und ihr starres Gesicht wurde lebendig im warmen Schein des Feuers. Sie legte ihre Arme um ihn und drückte ihr Gesicht fest an seine Schulter. Er hörte, wie ihr Speer klirrend hinter ihm zu Boden fiel. Er hielt sie fest an sich gedrückt; ein Hauch ihres klaren, stolzen Geistes wehte wie ein guter Wind durch seinen Geist. Schließlich ließ sie ihn los und trat zurück, um ihn wiederum anzusehen. Ihre dunklen Brauen zpgen sich zusammen, als sie seiner Narben gewahr wurde.

»Ihr hättet Wächter haben sollen auf der Handelsstraße. Ich habe im letzten Frühjahr mit Rendel überall nach Euch gesucht, aber Ihr wart uns immer einen Schritt voraus.«

»Ich weiß.«

»Kein Wunder, daß die Wachen Euch nicht erkannten. Ihr seht — Ihr seht aus wie —« Zum erstenmal schien sie die Krähe zu bemerken, die reglos unter seinem Haar saß. »Das ist — Ist das Mathom?«

»Ist er hier?«

»Er war hier, jedenfalls eine Zeitlang. Auch Har war hier, aber die Zauberer haben sie beide nach Hause geschickt.«

Seine Hände, die auf ihren Schultern lagen, verkrampften sich.

»Har?« wiederholte er ungläubig. »Warum, in Hels Namen, kam er hierher?«

»Um Euch zu helfen. Er hielt sich im Lager der Morgol vor Lungold auf, bis die Zauberer ihn überredeten, wieder fortzugehen.«

»Und sind sie so gewiß, daß er wirklich fortgegangen ist?

Haben sie den Geist jedes blauäugigen Wolfes rund um Lungold erforscht?«

»Das weiß ich nicht.«

»Lyra, Gestaltwandler sind auf dem Weg hierher. Sie wissen, daß sie mich hier finden werden.«

Sie schwieg; er sah, wie sie rechnete.

»Die Morgol wies uns an, ein Arsenal von Waffen für die Händler mitzubringen. Es gab kaum Waffen in der Stadt. Aber die Händler — Morgon, das sind keine Kämpfer. Die Mauern werden unter einem Angriff abbröckeln wie altes Brot. Wir haben zweihundert Wachen.« Wieder zogen sich ihre Brauen zusammen, und sie sah plötzlich jung aus. »Wißt Ihr, was sie sind? Die Gestaltwandler?«

»Nein.«

Etwas Fremdes schimmerte in ihren Augen; der erste Anflug von Angst, den er je an ihr gesehen hatte. Barscher, als er beabsichtigt hatte, sagte er: »Warum?«

»Habt Ihr die Nachricht aus Ymris gehört?«

»Nein.«

Sie holte Atem. »Heureu Ymris hat die Ebene der Winde verloren. An einem einzigen Nachmittag. Monatelang hielt er das Heer der Rebellen am Rande der Ebene zurück. Die Ritter von Umber und Marcher hatten ein Heer aufgebracht, um die Rebellen ins Meer zurückzuwerfen. Innerhalb von zwei Tagen hätte es die Ebene der Winde erreicht. Doch plötzlich strömte ein riesiges Heer, von dessen Existenz niemand eine Ahnung gehabt hatte, aus Meremont und Tor über die Ebene der Winde. Krieger, die überlebt haben, schwören, sie hätten sie plötzlich mit Männern im Kampf gesehen — mit Männern im Kampf gesehen, die sie schon getötet hatten. Das Heer des Königs wurde vernichtend geschlagen. Ein Händler, der Pferde verkaufen wollte, geriet unversehens in die Schlacht. Er floh mit den Überlebenden nach Ruhn und dann weiter nach Lungold. Er sagte — er sagte, die Ebene wäre nur noch ein wüstes Feld von unbegrabenen Toten gewesen. Und Heureu Ymris ist seit diesem Tag nirgendwo in Ymris mehr gesehen worden.«