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Morgons Lippen bewegten sich tonlos. »Ist er tot?«

»Astrin Ymris sagt nein. Doch selbst er kann den König nicht finden. Morgon, wenn ich mit zweihundert Wachen gegen die Gestaltwandler kämpfen muß, dann werde ich das tun. Aber wenn Ihr mir doch nur sagen könntet, wofür wir kämpfen.«

»Ich weiß es nicht.« Er fühlte, wie sich die Klauen der Krähe durch seinen Kittel bohrten. »Wir tragen diese Schlacht aus der Stadt hinaus. Ich bin nicht hergekommen, um Lungold ein zweitesmal zu zerstören. Ich werde den Gestaltwandlern keinen Anlaß geben, hier zu kämpfen.«

»Wohin wollt Ihr gehen?«

»In die Wälder, auf einen Berg — irgendwohin. Nur hier werde ich nicht bleiben.«

»Ich komme mit«, sagte sie.

»Nein. Absolut —«

»Die Wache kann hier in der Stadt bleiben, für den Fall, daß sie gebraucht wird. Aber ich komme mit Euch. Das ist für mich eine Sache der Ehre.«

Stumm sah er sie aus zusammengezogenen Augen an. Sie begegnete ruhig seinem Blick.

»Was hast du getan?« fragte er. »Hast du ein Gelöbnis abgelegt?«

»Nein. Ich tue keine Gelöbnisse. Ich treffe Entscheidungen. Und diese habe ich in Caerweddin getroffen, als ich hörte, daß Ihr die Landherrschaft von Hed verloren hattet und noch am Leben wart. Ich erinnerte mich an einen Tag in Herun, als Ihr von Hed erzähltet, und ich wußte, wieviel Euch die Landherrschaft bedeutete. Diesmal werdet Ihr eine Wache haben.«

»Lyra! Ich habe eine Wache. Fünf Zauberer.«

»Und mich.«

»Nein. Du bist die Landerbin von Herun. Ich will nicht deinen toten Körper nach Kronstadt zurücktragen müssen, um ihn der Morgol zu übergeben.«

Mit einer flinken, geschmeidigen Bewegung entschlüpfte sie seinen Händen. Sie hob den Speer vom Boden auf, hielt ihn aufrecht neben sich, während sie sich vor ihn hinstellte.

»Morgon«, sagte sie ruhig, »ich habe meine Entscheidung getroffen. Ihr kämpft mit Zauberei; ich kämpfe mit dem Speer. Das ist die einzige Art zu kämpfen, die ich kenne. Entweder kämpfe ich hier, oder ich werde eines Tages gezwungen sein, in Herun selbst zu kämpfen. Wenn Ihr wieder mit Ghisteslohm zusammentrefft, werde ich zur Stelle sein.« Sie machte kehrt, erinnerte sich dann, weshalb sie ursprünglich in die Küche gekommen war. Sie nahm eine alte Fackel und tauchte sie ins Feuer. »Ich mache jetzt einen Rundgang. Danach komme ich zurück und bewache Euch bis zum Morgengrauen.«

»Lyra«, sagte er müde, »bitte, kehr nach Hause zurück.«

»Nein. Ich tue ganz einfach das, wofür ich ausgebildet wurde. Genau«, fügte sie ohne den geringsten Hauch von Ironie hinzu, »wie Ihr.« Dann wanderten ihre Augen wieder zu der Krähe. »Sollte ich den Vogel kennen, um auch ihn bewachen zu können?«

Er zögerte. Die Krähe hockte wie ein schwarzer Gedanke auf seiner Schulter und rührte sich nicht.

»Nein«, antwortete er schließlich. »Ihr wird nichts geschehen, ich schwöre es bei meinem Leben.«

Ihre dunklen Augen weiteten sich plötzlich, kehrten nochmals zu der Krähe zurück. Leise, verwundert sagte sie dann: »Wir waren einmal Freunde.«

Danach ging sie. Er trat zum Feuer, doch sein Magen und seine Kehle waren wie zugeschnürt von quälenden Gedanken, und er konnte nicht essen. Er ließ das Feuer in Asche zurücksinken. Dann legte er sich auf eine der Matratzen nieder, das Gesicht auf dem Arm, und wandte den Kopf, die Krähe anzusehen. Sie kauerte neben ihm auf den Steinen. Mit der freien Hand strich er ihr wieder und wieder über das Gefieder.

»Nie werde ich dich eine andere Gestalt lehren«, flüsterte er.

»Rendel, was auf der Ebene der Winde geschah, hat mit dir nichts zu tun. Nichts.«

Er streichelte sie, sprach mit ihr, bat und flehte, ohne eine Antwort zu bekommen, bis seine Augen sich schließlich schlössen und er in Dunkelheit versank.

Das Morgengrauen brach in seine Träume ein, als krachend die Tür aufflog und wieder zuschlug. Mit hämmerndem Herzen fuhr er hoch und sah das junge, erstaunte Gesicht einer fremden Wächterin. Sie neigte höflich den Kopf.

»Verzeiht, Herr.« Sie hob einen Eimer mit Wasser und einen irdenen Krug mit frischer Milch auf den Tisch. »Ich wußte nicht, daß Ihr hier schlaft.«

»Wo ist Lyra?«

»Auf der Nordmauer, oberhalb vom See. Ein kleines Heer nähert sich über das Hinterland. Goh ist schon fortgeritten, um zu prüfen, was das für Krieger sind.« Brummend stand er auf.

»Lyra trug mir auf, Euch zu fragen, ob Ihr kommen könntet«, fügte sie hinzu. »Ja, ich komme.«

Nun, in eine Wolke von Tabaksqualm eingehüllt, tauchte plötzlich auf, und er fuhr wieder zusammen. Sie legte beruhigend die Hand auf seine Schulter. »Wohin wollt Ihr?«.

»Über das Hinterland nähert sich ein Heer; vielleicht sind es Hilfstruppen, vielleicht aber auch nicht.« Er schöpfte Wasser aus dem Eimer und wusch sich das Gesicht. Dann goß er Milch in einen der angeschlagenen Becher und trank. Unvermittelt fuhr er herum und sah auf die Matratze, auf der er geschlafen hatte. »Wo —?« Er trat einen Schritt näher, während sein Blick verzweifelt über die Töpfe aus Eisen und Messing glitt, die an der Wand hingen, und dann hinauf zu den rußdunklen Dachbalken. »Wo, in Hels Namen.?« Er ließ sich auf die Knie fallen, suchte unter dem Tisch, dann in der Holzkiste, suchte selbst in der Asche der Feuerstelle. Am Ende richtete er sich auf, kreidebleich im Gesicht, und blickte Nun an. »Sie hat mich verlassen.«

»Rendel?«

»Sie ist fort. Sie wollte nicht einmal mit mir sprechen. Sie ist einfach fortgeflogen und hat mich allein gelassen.« Er stand auf und lehnte sich müde und niederschlagen an die Steine des Kamins. »Es war die Nachricht aus Ymris. Von den Gestaltwandlern.«

»Gestaltwandler.« Ihre Stimme klang tonlos. »Das also bedrückt sie. Die Gabe, die sie mitbekommen hat?«

Er nickte. »Sie hat Angst.« Er schlug mit der Hand gegen die Steine. »Ich muß sie finden. Sie ist wortbrüchig geworden — und der Geist Ylons sitzt ihr schon im Nacken.«

Nun verfluchte den toten König mit Inbrunst. Dann drückte sie die Finger auf ihre Augen.

»Nein«, sagte sie. »Ich werde sie finden. Vielleicht wird sie mit mir sprechen. Sie hat es früher immer getan. Ihr seht nach, was das für ein Heer ist. Ich wünschte, Yrth würde kommen; er macht mir Sorgen. Aber ich wage es nicht, ihn oder Rendel zu rufen; mein Ruf könnte seinen Weg schnurstracks in den Geist des Gründers finden. Jetzt laßt mich nachdenken. Wenn ich eine Prinzessin von An wäre, die Gaben eines Gestaltwandlers besäße, in Gestalt einer Krähe herumflöge, wohin würde ich mich dann wenden.?«

»Ich weiß, wohin ich mich wenden würde«, murmelte Morgon. »Aber sie mag kein Bier.«

Zu Fuß wanderte er durch die Stadt zum Fischerhafen am See, hielt unaufhörlich nach einer Krähe Ausschau, während er einen Fuß vor den anderen setzte. Die Fischkutter waren alle draußen auf dem weiten See, doch andere kleine Boote schoben sich aus dem Hafen, Frachtkähne und Handelsschiffe, beladen mit Waren, die an die Fallensteller und Viehtreiber, die in Hütten rund um den See lebten, verhökert werden sollten. Auf keinem der Masten entdeckte er eine Krähe.

Nach einer Weile fand er Lyra, die vor einer halbverfallenen Brüstung neben einem Tor stand. Ein großer Teil der Nordmauer schien sich unter Wasser zu befinden, die Docks zu tragen; der Rest war kaum mehr als eine Reihe breiter Torbogen. In den Mauernischen zwischen ihnen hatten Fischhändler ihre Stände aufgeschlagen. Morgon ignorierte den glasstarren Blick eines Fischweibes, löste sich vor ihr in Luft auf und tauchte an Lyras Seite wieder auf. Sie zwinkerte nur ein wenig, als sie ihn sah, so als wäre sie an die unberechenbaren Handlungen von Zauberern gewöhnt. Sie streckte den Arm aus und deutete in eine Richtung östlich vom See, und er sah im fernen Wald winzige Lichtreflexe aufblitzen.