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»Könnt Ihr erkennen, was es ist?« fragte sie.

»Ich will es versuchen.«

Er fing den Geist eines Habichts ein, der außerhalb der Stadt über den Bäumen kreiste. Das Lärmen der Stadt verklang, und er hörte nur noch den trägen Morgenwind und den schrillen Schrei eines anderen Raubvogels, der seine Beute verfehlt hatte. Die Kreise des Habichts wurden unter seinem Drängen größer; in langsam kreisendem Flug glitt sein Blick über Fichtenwälder, die im heißen Sonnenlicht standen, durch schattiges Unterholz, dann wieder hinaus ans Licht, über heißen, kahlen Fels, wo Eidechsen im Schatten des Habichts erschrocken in Spalten schlüpften. Das Habichtshirn registrierte jedes Geräusch, jeden huschenden Schatten im Farn. Er drängte den Vogel weiter nach Osten, so daß aus seinen Kreisen eine weitgezogene Spirale wurde. Schließlich überflog er einen Zug von Kriegern, die müde unter den Bäumen dahinwanderten. Wieder und wieder trieb er den Habicht zu der Schar von Männern, bis schließlich eine Bewegung im hellen Licht unten die Aufmerksamkeit des Vogels erregte, und während er sich erdwärts schwang, löste sich Morgon aus seinem Geist.

Er ließ sich an der Brüstung zu Boden gleiten. Die Sonne traf ihn aus einem merkwürdigen Winkel, sie stand viel höher, als er erwartet hatte.

»Es scheinen Krieger aus Ymris zu sein«, sagte er müde, »die seit Tagen durch das Hinterland wandern. Sie waren bärtig, und ihre Pferde waren störrisch. Sie rochen nicht nach dem Meer. Sie rochen nach Schweiß.«

Lyra betrachtete ihn, die Hände in die Hüften gestützt.

»Soll ich ihnen trauen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Vielleicht kann Goh es mir sagen. Ich habe ihr Anweisung gegeben, sie zu beobachten und sie zu belauschen und dann auch mit ihnen zu sprechen, wenn sie es für klug hält. Sie hat einen gesunden Menschenverstand.«

»Es tut mir leid.« Er stand wieder auf. »Ich glaube, daß sie Menschen sind, aber ich bin nicht in Stimmung, irgend jemandem zu trauen.«

»Werdet Ihr die Stadt verlassen?«

»Ich weiß es nicht. Yrth ist noch immer verschwunden, und jetzt ist auch Rendel fort. Wenn ich gehe, dann wird sie nicht wissen, wo ich bin. Wenn du nichts Gefährlicheres ausmachst, können wir noch ein Weilchen warten. Wenn es sich wirklich um Krieger aus Ymris handelt, dann können die Männer sich hier um diese Überbleibsel einer Schutzmauer verteilen, und alle werden sich gleich viel sicherer fühlen.«

Sie schwieg einen Moment, während sie in den Wind hineinblickte, als suchte sie nach dem Schatten dunkler Schwingen.

»Sie wird zurückkommen«, sagte sie leise. »Sie hat großen Mut.«

Er legte seine Arme um ihre Schulter und drückte sie kurz an sich.

»Und du auch. Ich wünschte, du würdest nach Hause zurückkehren.«

»Die Morgol hat ihre Wache in den Dienst der Kaufleute von Lungold gestellt. Sie soll die Stadt hüten und beschützen.«

»Aber sie hat doch nicht ihre Landerbin in den Dienst der Kaufleute gestellt?«

»Ach, Morgon, hört auf, mit mir zu streiten, könnt Ihr denn nicht was zur Kräftigung dieser Mauer tun? Sie ist völlig nutzlos und gefährlich und fällt praktisch unter meinen Füßen zusammen.«

»Gut. Ich habe jetzt eine Weile nichts Besseres zu tun.«

Sie drehte den Kopf und küßte ihn auf die Wange.

»Rendel hat sich wahrscheinlich irgendwohin zurückgezogen, um nachzudenken. Sie wird zu Euch zurückkommen.« Er öffnete den Mund; sie befreite sich aus seinen Armen, wandte plötzlich das Gesicht van ihm ab. »Geht, macht die Mauer.« Er brachte Stunden damit zu, die Mauer zu reparieren, wäh-rend er versuchte, nicht zu denken. Ohne auf das Getümmel rundum zu achten — die Bauern und Kaufleute, die ihn voller Unbehagen beäugten, die Händler, die ihn erkannten —, stand er da, die Hände und das Gesicht gegen die alten Steine gedrückt. Sein Geist senkte sich in ihr wuchtiges Schweigen, bis er ihr Absinken, ihren unsicheren Halt an den Strebepfeilern in sich spürte. Er baute Trugbilder von Stein in die Torbögen hinein und stützte sie mit Strebepfeilern seines Geistes. Die plötzlich blockierten Tore brachten Wagen und Pferde zum Stehen, lösten wütendes Gezänk aus, trieben schimpfende Menschenmassen ins Rathaus. Der Verkehrsstrom, der sich durch das Haupttor wälzte, schwoll ungeheuer an. Straßenjungen sammelten sich um ihn, während er dem Rund der Stadtmauer folgte. Sie sahen ihm bei der Arbeit zu, blieben ihm dicht auf den Fersen, sahen entzückt und verwundert, wie Steine unter seinen Händen erwuchsen, die vorher nicht dagewesen waren. Am späten Nachmittag, als er sein schweißnasses Gesicht gegen die Steine eines Torbogens drückte, spürte er die Berührung einer fremden Kraft. Er schloß die Augen und durchwanderte eine Stille, die ihm wohlvertraut geworden war. Lange Zeit, während sein Geist sich tief im Inneren der Steine bewegte, hörte er nichts als ihren Atem. Als er schließlich an die sonnenwarme Oberfläche der Außenmauer emporkroch, fühlte er den harten Druck eines Rammbocks von unbändiger Kraft, der sich gegen die Steine stemmte. Vorsichtig betastete er mit seinem Geist diese fremde, gewaltige Kraft. Es war eine Kraft, die der Erde selbst entrissen war und gegen die schwächste Stelle im Stein anbrandete. Langsam, erschreckt zog er sich zurück.

Jemand stand hinter ihm und rief immer wieder seinen Namen. Fragend drehte er sich um: eine der Wachen der Morgol in Begleitung eines rothaarigen Mannes in Leder und Kettenhemd. Das breite, sonnengebräunte Gesicht der jungen Frau war schweißnaß. Sie sah so erschöpft aus, wie Morgon sich fühlte. Ihre rauhe Stimme war ruhig und geduldig, sehr angenehm.

»Herr, mein Name ist Goh. Dies hier ist Teril Umber, der Sohn des Herrn Rork Umber von Ymris. Ich habe es auf mich genommen, ihn und seine Krieger in die Stadt zu führen.«

Ein schwacher Hauch von Spannung lag in ihrer Stimme und in den ruhigen Augen. Schweigend sah Morgon den Mann an. Er war jung, durch Schlachten gestählt, und er wirkte völlig ausgepumpt. Höflich neigte er den Kopf vor Morgon; er ahnte nichts von dessen Argwohn.

»Herr, Heureu Ymris entsandte uns einen Tag vor — an dem Tag bevor wir, wie es scheint, die Ebene der „Winde verloren. Wir haben eben die Nachricht von der Landerbin der Morgol gehört.«

»War Euer Vater auf der Ebene der Winde?« fragte Morgon. »Ich erinnere mich an ihn.«

Teril Umber nickte bedrückt.

»Ja. Ich habe keine Ahnung, ob er überlebt hat.« Dann strafften sich seine Schultern unter der Last des staubigen Kettenhemdes. »Der König war besorgt um die Händler hier, die ohne Verteidigung sind; er ist selbst einmal auf Handelsschiffen gesegelt. Und er wollte Euch natürlich so viele Männer zur Verfügung stellen, wie er entbehren konnte. Ich habe hundertfünfzig Krieger mitgebracht, den Wachen der Morgol bei der Verteidigung der Stadt Unterstützung zu leisten, wenn es notwendig werden sollte.«

Morgon nickte. Das magere, schweißglänzende Gesicht mit dem roten Bart schien über jeden Verdacht erhaben.

»Ich hoffe«, gab er zurück, »es wird nicht notwendig werden. Es war hochherzig vom König, Euch zu schicken.«

Teril Umber neigte nur stumm den Kopf.

»Es tut mir leid«, fuhr Morgon fort, »zu hören, daß auch Euer Vater unter denen war, die auf der Ebene der Winde kämpften. Er ist mir mit großer Güte begegnet.«