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»Er hat von Euch gesprochen.« Der junge Mann schüttelte den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch das flammend rote Haar. »Aber er hat schon Schlimmeres überstanden«, fügte er ohne Hoffnung hinzu. »Ja, ich glaube, ich spreche jetzt am besten mit Lyra, damit ich meine Leute noch vor Einbruch der Nacht verteilen kann.«

Morgon warf einen Blick auf Goh. Die Erleichterung, die er auf ihrem Gesicht sah, sagte ihm, wie beunruhigt sie gewesen war.

»Bitte, sagt Lyra«, bemerkte er mit gesenkter Stimme, »daß ich mit der Mauer fast fertig bin.«

»Ja, Herr.«

»Danke Euch.«

Sie lächelte und ging mit einem kurzen Nicken davon.

Während seine Arbeit an der Mauer ihren Fortgang nahm und der Tag sich einem sonnendurchglühten Ende zuneigte, bekam er in zunehmendem Maße das Gefühl, von einem Festungsring aus reiner Kraft umschlossen zu sein. Der Zauberer, der still und schweigend auf der anderen Seite der Mauer mit ihm arbeitete, kräftigte die Steine, indem er sie berührte, verschloß Lücken und Risse mit grauem, körnigem Blendwerk, stützte geborstene Mauern mit Pfeilern seiner Kraft. Die Mauern, die vorher brüchig und schief gewesen waren, halb zerstört von den Einflüssen sommerlicher Hitze und winterlicher Schneefälle, standen wieder fest und sicher, spannten sich in weitem, ununterbrochenem Rund trutzig um die Stadt.

Morgon wob ein Kraftgespinst von Stein zu Stein, um auch die letzten Sprünge im alten Mörtel zu schließen, und lehnte sich dann todmüde gegen die Mauer, die Arme vor dem Gesicht. Er konnte das Zwielicht riechen, das über die Felder schwebte. Die Stille der letzten Minuten vor Sonnenuntergang, das friedliche, schon schläfrige Zwitschern der Vögel ließ ihn flüchtig an Hed denken. Das ferne Krächzen einer Krähe riß ihn aus seiner Träumerei. Er stemmte sich von der Mauer ab und wanderte zu einem der beiden Tore hinüber, die er offengelassen hatte. Ein Mann mit einer Krähe auf seiner Schulter stand am anderen Ende des Torbogens.

Es war ein hochgewachsener alter Mann, mit kurzem, grauem Haar und schroffen Gesichtszügen. Er sprach in der Sprache der Krähe mit dem Vogel; einiges davon verstand Morgon. Als die Krähe antwortete, löste sich ein eiserner Ring der Angst, der bis dahin Morgons Herz zusammengepreßt hatte, und ihm war, als hätte sein Herz einen warmen Ruheplatz gefunden, auf der Hand des alten Zauberers vielleicht, die mit dem Mal der Vesta-Hörner gezeichnet war. Er ging auf die beiden zu, beruhigt durch die Ausstrahlung starker Kraft, die von dem Zauberer ausging, und durch seine Güte Rendel gegenüber.

Doch noch ehe er sie erreichte, sah er, wie der Zauberer mitten im Satz abbrach und die Krähe hoch in die Lüfte schleuderte. Er rief ihr etwas nach, das Morgon nicht verstand. Dann zerschmolz er. Morgon, der heftig atmend dastand wie gefroren, sah das Zwielicht, das lautlos die Handelsstraße herunterwehte; eine Woge von Reitern in den Farben des Abendhimmels. Noch ehe er eine Bewegung machen konnte, erhellte ein Licht, das wie geschmolzenes Gold glänzte, den Torbogen rund um ihn herum. Die Mauer schwankte; knirschend, torkelnd schüttelten sich die Steine und schleuderten einen so gewaltigen Kraftstoß in die Straße, daß die Kopfsteine barsten und Morgon in die Knie gedrückt wurde. Er rappelte sich wie-der hoch und drehte sich um.

Das Herz der Stadt stand in Flammen.

Kap. 8

Zwei der Ymris-Krieger mühten sich bereits, das Haupttor zu schließen, als er ins Innere der Stadt hineinhuschte. Die Angeln knirschten und kreischten, Rost rieselte, als die schweren Eichenplatten sich rüttelnd aus den Furchen hoben, in denen sie seit Jahrhunderten geruht hatten. Morgon schlug die beiden Flügel mit einem Gedanken zu, der ihm beinahe das Leben gekostet hätte. Ein nur allzu vertrauter, todbringender Geist ertastete die Quelle des Kraftstoßes und bemächtigte sich Morgons über die Entfernung hinweg. Die Dunkelheit vor ihm wurde von einem blauweißen Blitz zerrissen, der von so seltsamer Schönheit war, daß er nur dastehen und ihn anstarren konnte. Dann schienen seine Knochen in alle Richtungen auseinanderzufliegen, wäh-rend sein Gehirn wie ein Stern brannte. Verschwommen fühlte er Stein hinter sich und ließ seinen Geist in ihn hineinfließen, leer werden, reglos. Die fremde Kraft entfernte sich. Er sammelte seine Knochen aus der Nacht und gewahrte undeutlich, daß er noch lebte. Einer der Krieger zog ihn vom Boden hoch. Sein Gesicht blutete. Der andere Mann war tot. »Herr —«

»Mir ist nichts geschehen.«

Er schleuderte seine Gedanken aus der Zeitzelle hinaus, in der er stand. Als der nächste Schwall von Energie durch die Nacht tobte, trat er einfach von ihm weg in eine andere Zelle nahe der brennenden Schule. Menschen rannten durch die Straßen den Haupttoren zu: Wachen, bewaffnete Ymris-Krieger, Händler, Kauf leute und Fischer, die ihre Schwerter mit einer grimmigen, ungelenken Entschlossenheit trugen. Kinder standen am Rande des Schulgeländes, gebannt vom Spiel des Lichts, während ihre Gesichter bald rot, bald golden, bald violett aufleuchteten. Dann barst die Mauer eines Hauses hinter ihnen, es regnete glühende Steine, und schreiend stoben sie auseinander.

Morgon zog aus seinen Gedanken eine Erinnerung an den Stoff, aus dem diese fremde Energie gewoben war, und speiste sie mit Kraft aus einer Quelle, die er nie zuvor angezapft hatte.

Er ließ sie durch sich hindurchströmen, ließ sie sich aufbauen, sich von seinen Gedanken und inneren Regungen nähren, bis sie gleich einem Blitzstrahl aus ihm herausschoß, der mit einem hohen, dünnen Summen die Luft durchschnitt. Feurig knisternd zuckte er der Kraftquelle innerhalb der Mauern entgegen, verschwand hinter ihnen, doch explodierte nicht. Der Strahl tauchte wieder auf, ehe er sein Ziel getroffen hatte, schoß mit der gleichen tödlichen Ladung auf Morgon zurück. Den Bruchteil einer Sekunde lang starrte er ungläubig, dann öffnete er sich, um den Kraftstrom wieder in sich aufzunehmen. Er implodierte in seinem Inneren in Finsternis. Ihm folgte nicht einmal einen Herzschlag später ein gewaltiger Schwall von Licht und Feuer, der bis in die untersten Tiefen seines wehrlosen Geistes drang. Er schleuderte ihn flach auf das Kopfsteinpflaster, und während er geblendet nach Luft schnappend dalag, brandete eine neuerliche Woge von Energie in ihn hinein. Er ließ sein Bewußtsein davontreiben, hinunter in die Ritzen zwischen den Steinen, in die dunkle, schweigende Erde unter ihnen. Der Splitter eines Steines, der neben ihm in Stücke barst, riß ihm die Wange auf, doch er fühlte es nicht. Während sein Körper wie festgenagelt auf der Oberfläche der Erde lag, begann er, aus den stummen, gesichtslosen, lebenden Geschöpfen, die in ihr wohnten, eine Stille zu schöpfen, die ihn schützen würde. Er wob die Stille von Maulwürfen und Regenwürmern, von winzigen Schlangen und den bleichen Wurzeln des Grases in seinen Geist. Als er schließlich aufstand, schien die Welt um ihn dunkel, gesprenkelt von kleinen, lautlosen Lichtblitzen. Mit dem blinden Instinkt des Regenwurms wanderte er in die Dunkelheit.

Unter dieser geistigen Maske gelangte er sicher über das freie Gelände in das Gebäude der Schule. Feuer hatte die uralten Kräfte, die noch in den Steinen eingeschlossen waren, entzündet. Kaltglitzernde Flammen huschten über geborstene Wände, speisten sich von der Energie in ihren Herzen. Morgon, dessen Geist noch immer von der Stille der sprachlosen Welt unter seinen Füßen trank, fühlte nichts vom gefährlichen Wellenschlag des Feuers rund um ihn herum. Eine Mauer brach zusammen, als er an ihr vorüberkam; die Steine rollten wie Kohle über seinen Schatten. Er empfand nur eine ferne Unruhe in der Erde, als hätte sich etwas in ihren Tiefen ein wenig verschoben.

Eine zarte Berührung seines Geistes zog unversehens seine Gedanken aus dem Inneren der Erde empor, lockte ihn, ihr zu folgen. Er brach den Bann, den er selbst über sich geworfen hatte, und stand zwinkernd im donnernden, feuerspeienden Tumult. Die unerwartete Berührung wurde gebieterisch und zwingend, und er erkannte, daß der Raum, durch den er schritt, in sich selbst zusammenfiel. Ihm blieb keine Zeit zu fliehen; er überließ seinen Geist den feurigen Steinen, die dröhnend herabstürzten, wurde ein Teil ihres schwerfällig taumelnden Stroms, zersprang mit ihnen und versank mit ihnen in einer starren, staubumhüllten Stille. Und in der Stille wühlte er seinen Körper aus ihnen heraus, sammelte wieder seine Gedanken. In diesem Augenblick sah er Nun, die ihn, nicht greifbar in der flimmernden Luft, beobachtete. Sie sagte nichts, zerschmolz fast im selben Moment, als er sie erblickte, während der glühende Kopf ihrer Pfeife einen Herzschlag lang allein in der Luft hing.