Eine unheimliche Stille lag über der Erde. Haufen zertrümmerten Mauerwerks glühten noch rot, doch die Nacht über der Schule war klar und unberührt, und er konnte Sterne sehen. Er stand da und lauschte, doch das einzige Schlachtgetümmel, das er hörte, kam aus den Straßen. Lautlos setzte er sich wieder in Bewegung und betrat den Saal.
Er war so schwarz und still wie die Höhlen des Erlenstern-Bergs. Er machte nur einen fruchtlosen Versuch, gegen die Finsternis anzukämpfen, und gab auf. Einem Impuls folgend holte er das Schwert an seiner Seite aus der Luft und zog es aus der Scheide. Er nahm es bei der Klinge und hielt es hoch, richtete die Augen der Sterne in die Dunkelheit. Er zog Feuer aus der Nacht hinter ihm, fachte es in den Sternen an. Ein rotes Licht brach durch die Finsternis, zeigte ihm Ghisteslohm.
Schweigend sahen sie einander an. Der Gründer wirkte hager und eingefallen im seltsamen Licht. Scharf traten die Knochen unter seiner Haut hervor. Seine Stimme schien matt, weder drohend noch geschlagen.
»Ihr könnt noch immer nicht im Dunklen sehen«, bemerkte er verwundert.
»Ich werde es lernen.«
»Ihr müßt die Dunkelheit trinken. Ihr seid ein Rätsel, Morgon. Ihr verfolgt einen Harfner durch das ganze Reich, um ihn zu töten, weil Ihr sein Spiel haßtet, doch mich tötet Ihr nicht. Ihr hättet mich töten können, solange Ihr meinen Geist in Eurer Gewalt hattet, aber Ihr habt es nicht getan. Ihr solltet es jetzt versuchen. Aber Ihr werdet es nicht tun. „Warum nicht?«
»Ihr wollt mich nicht tot. Warum?«
Der Zauberer brummte. »Ein Rätselkampf. Ich hätte es mir denken können. Wie habt Ihr an jenem Tag auf der Handelsstraße überlebt, daß Ihr fliehen konntet? Ich selbst konnte nur mit knapper Not entkommen.«
Morgon schwieg. Er senkte das Schwert und ließ seine Spitze auf dem Boden ruhen.
»Was sind sie? Die Gestaltwandler? Ihr seid der Erhabene. Ihr müßtet es wissen.«
»Sie waren eine Legende, die man sich hier und dort erzählte, ein Stück Poesie, ein Häufchen nasser Seetang und zerbrochene Muschelschalen. Eine befremdliche Behauptung von einem Fürsten von Ymris, bis Ihr Euer Land verließt, um mich zu finden. Jetzt — jetzt werden sie zum Alptraum. Was wißt Ihr über sie?«
»Sie sind steinalt. Sie können getötet werden. Sie haben ungeheure Kraft, aber sie gebrauchen sie selten. Sie töten Händler und Krieger in den Straßen von Lungold. Ich weiß nicht, was, in Hels Namen, sie sind.«
»Was sehen sie in Euch?«
»Das gleiche, was Ihr in mir seht, vermute ich. Diese Frage werdet Ihr mir beantworten.«
»Zweifellos. Der Weise kennt seinen eigenen Namen.«
»Reizt mich nicht.« Das Licht bebte ein wenig zwischen seinen Händen. »Ihr habt Lungold zerstört, um mir meinen Namen zu verheimlichen. Ihr habt alles Wissen darum verborgen, Ihr bewachtet die Schule in Caithnard —«
»Erspart mir die Geschichte meines Lebens.«
»Das ist es, was ich von Euch will. Meister Ohm. Erhabener. Woher nahmt Ihr den Mut, den Namen des Erhabenen anzunehmen?«
»Kein anderer nahm ihn für sich in Anspruch.«
»Warum?«
Der Zauberer blieb einen Moment lang stumm.
»Ihr könntet Antworten von mir erzwingen«, sagte er schließlich. »Ich könnte meinen Geist auswerfen und die Zauberer von Lungold wieder bannen, so daß Ihr mir nichts anhaben könntet. Ich könnte fliehen; Ihr könntet mich verfolgen. Ihr könntet fliehen; ich könnte Euch verfolgen. Ihr könntet mich töten, was anstrengende Arbeit wäre, und Ihr würdet Euren mächtigsten Beschützer verlieren.«
»Beschützer.« Er ließ die Silben fallen wie drei abgenagte Knochen.
»Ich möchte Euch lebend, ja. Und die Gestaltwandler? Hört auf mich —«
»Ihr braucht es gar nicht erst zu versuchen«, fiel ihm Morgon müde ins Wort. »Ich werde Eure Macht ein für allemal brechen. Es mag seltsam klingen, aber es kümmert mich nicht, ob Ihr lebt oder sterbt. Ihr wenigstens seid mir begreiflich, und das ist mehr, als ich von den Gestaltwandlern oder —«
Er brach ab. Der Zauberer trat einen Schritt zu ihm hin.
»Morgon, Ihr habt die Welt durch meine Augen gesehen, und Ihr besitzt meine Kräfte. Je mehr Ihr in das Landrecht eingreift, desto mehr Menschen werden sich dessen erinnern.«
»Ich habe nicht die geringste Absicht, in das Landrecht einzugreifen! Wofür haltet Ihr mich?«
»Ihr habt schon angefangen.«
Morgon starrte ihn wortlos an.
»Ihr täuscht Euch«, entgegnete er dann leise. »Nichts und nie habe ich durch Eure Augen gesehen. Was, in Hels Namen, seht Ihr, wenn Ihr mich anblickt?«
»Morgon, ich bin der mächtigste Zauberer in diesem Reich. Ich könnte für Euch kämpfen.«
»Irgend etwas hat Euch an jenem Tag auf der Handelsstraße in Angst versetzt. Ihr braucht mich, damit ich für Euch kämpfe. Was ist geschehen? Habt Ihr die Grenzen Eurer Macht im Spiegel eines meergrünen Auges erblickt? Sie wollen mich haben, und Ihr wollt mich ihnen nicht preisgeben. Aber Ihr seid jetzt nicht mehr so sicher, daß Ihr es mit einem Heer von Seetang aufnehmen könnt.«
Ghisteslohm hüllte sich in Schweigen. Sein eingefallenes Gesicht schimmerte im Spiel blutroter Schatten.
»Könnt Ihr es denn?« fragte er. »Wer wird Euch helfen? Der Erhabene?«
In diesem Augenblick spürte Morgon die plötzliche Bewegung seines Geistes, spürte eine Welle von Kraft, die den Saal und das Gelände umschloß, die die Zauberer suchte, sich ihres Geistes zu bemächtigen, sie wiederum zu bannen. Morgon hob das Schwert; die Sterne entzündeten scharfe Lichtstrahlen, die in Ghisteslohms Augen stachen. Er schreckte vor ihnen zurück, und seine Konzentration zerbrach. Dann hob er die Hände, verschlungene Lichtfäden zwischen den Fingern. Das Licht glitt zurück in die Sterne, als hätten sie es aufgesogen. Finsternis kauerte wie ein lebendes Geschöpf im Saal und verdunkelte selbst das Mondlicht. Das Schwert wurde kalt in Morgons Hand. Die Kälte stieg in seine Arme hinauf, in seine Knochen, hinter seine Augen: ein Bann, der seine Bewegung und seine Gedanken lahmte. Seine eigene Erkenntnis dieses Banns verstärkte ihn nur; und als er sich abmühte, eine Bewegung zu machen, wurde er nur fester in Stille gefesselt. Darum gab er sich der Lähmung hin, stand reglos in der Nacht, wohl wissend, daß sie Trug war und daß nur die Bereitschaft, sie anzunehmen, genau wie die Bereitschaft, das Undenkbare anzunehmen, aus ihr herausführen konnte. Er wurde die Stille und die Kälte, die damit einhergingen, und als der Ansturm unermeßlicher Kraft, der sich in irgendeiner düsteren Welt sammelte, ihn endlich traf, hielt sein gelähmter, in Finsternis erstarrter Geist ihn auf wie eine eiserne Wand.
Er hörte Ghisteslohms wütenden, ungläubigen Fluch und schüttelte den Bann ab. Einen Wimpernschlag bevor der Geist des Zauberers verschwinden konnte, bekam er ihn zu fassen. Ein letzter Kraftstoß, der durch seinen Geist fegte, lockerte seinen Zugriff ein wenig, und er gewahrte, daß er selbst nahe am Rande seiner Kräfte war. Doch der Zauberer war erschöpft; selbst sein Trug von Finsternis war zerrissen. Licht funkelte wieder aus den Sternen; die geborstenen Wände rundum leuchteten von geheimer Kraft. Ghisteslohm hob eine Hand, als wollte er aus den brennenden Steinen etwas herausholen, dann ließ er sie schlaff fallen. Morgon nahm seinen Geist in Besitz und sprach seinen Namen.
Der Name schlug Wurzeln in seinem Herzen und in seinen Gedanken. Nicht Kraft sog er jetzt auf, sondern Erinnerungen. Für kurze Zeit blickte er aus Ghisteslohms Geist auf die Welt.
Er erblickte den großen runden Saal, in dem sie standen, in all seiner ursprünglichen Schönheit. Die Fenster leuchteten mit den Feuern der Zauberkunst, die getäfelten Wände rochen nach Zedernholz. Hundert Gesichter blickten ihn an jenem Tag tausend Jahre zuvor an, als er die neuen Lehrsätze der Zauberkunst formulierte. Während er sprach, stahl er im geheimen, selbst aus dem Geist des machtvollsten unter ihnen, alles Wissen um die drei Sterne und alle Erinnerung an sie.