Das Lärmen der Schlacht rollte wieder über ihn hinweg. Er hob den Kopf, suchte das Schwert und sah Lyra, die sich zwischen zwei Händlern unter der Tür hindurchdrängte. Ein stechender Schmerz saß in seiner Kehle. Er wollte rufen, schreien, die Schlacht unterbrechen, bis sie wieder fort war, doch er hatte keine Kraft. Sie arbeitete sich näher zu ihm hin. Ihr Gesicht war bleich und erschöpft; dunkle Halbmonde lagen unter ihren Augen. Getrocknetes Blut klebte an ihrem Kittel, in ihrem Haar. Ihre Augen suchten das Schlachtfeld ab, entdeckten ihn plötzlich. Der Speer in ihrer Hand blitzte auf; sie schleuderte ihn ihm entgegen. Er sah ihn kommen, ohne sich zu rühren, ohne zu atmen. Pfeifend zischte er an ihm vorbei, traf den Gestaltwandler und riß ihn von Morgons Seite weg. Er packte sein Schwert und sprang schwankend auf die Beine. Lyra bückte sich, hob den Speer unter einer der gefallenen Wachen auf. Sie wog ihn in ihrer Hand, drehte sich in einer einzigen behenden, präzisen Bewegung und warf.
Der Speer stieg hoch, sauste über die Kämpfenden hinweg, zerriß die Luft in einem Silberstreif auf dem Weg zum Herzen des Gründers. Seine Augen, die die Farbe des Nebels über dem Meer hatten, waren nicht einmal fähig zu zwinkern, während sie dem näher kommenden Speer entgegenblickten. Morgons Gedanken flogen rascher als der Schatten des Speeres. Er sah, wie Lyras Gesicht zu einer Maske hilflosen Entsetzens erstarrte, als sie gewahr wurde, daß der Zauberer gebannt war, wehrlos gegen sie; ihrem todbringenden Wurf haftete keine Ehre an, er verlangte kein Geschick, ließ keine Möglichkeiten offen. Morgon wollte schreien, den Speer mit seiner Stimme knicken, um einen Traum von Wahrheit zu retten, der hinter den Augen eines Kindes, hinter den Augen eines Zauberers verborgen war. Statt dessen flog seine Hand hoch, zog die Harfe auf seinem Rücken aus der Luft. Er spielte sie, noch während er sie formte: die letzte tiefe Saite, deren Schwingungen selbst ein eisernes Schwert unter Klirren erzittern ließen und jede andere Waffe draußen und drinnen im Saal zerschmetterten.
Stille senkte sich wie alter Staub über den Saal. Die Krieger aus Ymris starrten ungläubig auf das zerbrochene Metall in ihren Händen. Lyra blickte noch immer zu jener Stelle in der Luft, wo der Speer, keine zwei Schritte von Ghisteslohm entfernt, zersplittert war. Langsam drehte sie sich um. Es war die einzige Bewegung im Saal. Ihr Blick traf den Morgons; sie schien plötzlich so ermattet, daß sie kaum noch stehen konnte. Die Wachen, die noch am Leben waren, starrten Morgon an. Ihre Gesichter waren geisterhaft bleich. Die Gestaltwandler rührten sich nicht. Ihre Körper schienen plötzlich zu fließen, so als wollten sie im nächsten Moment mit dem Nichts verschmelzen. Selbst die Frau, die er als Eriel kannte, stand reglos, während sie ihn beobachtete und wartete.
In diesem Augenblick wurde ihm nur einen Herzschlag lang offenbar, welche furchtbare, bedrohliche Kraft sie in ihm sahen, die irgendwo in dunstverhangenen Regionen jenseits seiner Erkenntnis lag. Die Tiefe seiner eigenen Unwissenheit entsetzte ihn. Hilflos drehte er die Harfe in den Händen, während er die Gestaltwandler gefangenhielt und noch keine Ahnung hatte, was er mit ihnen tun sollte. Bei dieser Bewegung der Unsicherheit wandelte sich der Ausdruck in Eriels Augen in schlichtes Staunen.
Rasch eilte sie vorwärts, um ihm die Harfe abzunehmen, um ihn mit seinem eigenen Schwert zu töten, um seinen Geist zu verdunkeln und mit dem ewigen Rauschen des Meeres zu füllen wie den Geist Ghisteslohms — er wußte es nicht. Er packte das Schwert und wich zurück. Eine Hand berührte seine Schulter, hielt ihn auf.
Rendel stand neben ihm. Ihr Gesicht war rein und weiß inmitten der Wolke ihres feurigen Haares, als wäre es wie die Gesichter der Erdherren aus Stein gemeißelt. Sie hielt ihn mit leichter Hand, doch sie sah ihn nicht.
»Ihr werdet ihn nicht anrühren«, sagte sie leise zu Eriel.
Die dunklen Augen blickten neugierig in ihr Gesicht.
»Ylons Tochter. Habt Ihr Eure Wahl getroffen?«
Eriel setzte sich wieder in Bewegung, und Morgon spürte, wie die ungeheure, gefesselte Kraft in Rendels Geist sich aus ihren Banden befreite. Er sah, wie die Gestalt, die Eriel angenommen hatte, von ihr abzufallen begann und etwas unglaublich Altes, Wildes enthüllte wie das dunkle Herz der Erde oder des Feuers. Mit aschfahlem Gesicht stand er da, im lähmenden Bann tiefen Staunens, und wußte, daß er unfähig war, sich zu rühren, selbst wenn das, was Rendel in ihre Gestalt zwang, sein eigener Tod war.
Dann donnerte ein Schrei durch seinen Geist, riß ihn aus seiner Faszination. Benommen starrte er hinüber zur anderen Seite der Rotunde. Der alte Zauberer, den er am Stadttor gesehen hatte, fing seinen Blick auf und hielt ihn mit seinen eigenen seltsamen, lichtlodernden Augen fest.
Wieder durchdrang ihn der stumme Schrei: ›Flieh!‹ Er rührte sich nicht. Er würde Rendel nicht verlassen, aber er konnte ihr nicht helfen; er fühlte sich unfähig, auch nur zu denken. Dann bemächtigte sich eine fremde Kraft seines erschöpften Geistes und entriß ihm seine eigene Gestalt. Er schrie, und es war das wütende, schrille Protestgeschrei eines Habichts. Die fremde Kraft hielt ihn, schleuderte ihn wie einen finsteren, ungebändigten Wind aus der brennenden Schule der Zauberer hinaus, hinaus aus dem Festungsring der Stadt in die weite, reglose Einöde der Nacht.
Kap. 9
Die Gestaltwandler verfolgten ihn durch das Hinterland. In der ersten Nacht schoß er in Habichtsgestalt über den Himmel, während die lodernde Stadt hinter ihm in der Dunkelheit kleiner und kleiner wurde. Instinktiv flog er nordwärts, fort von den Königreichen, richtete seinen Kurs nach dem Geruch von Wasser unter ihm. Als der Morgen graute, fühlte er sich sicher. Er glitt abwärts, dem Seeufer entgegen. Vögel, die in der sanften Morgenbrise auf dem Wasser dahintrieben, flatterten auf, als er herabschoß. Er fühlte, wie die Federn ihres Geistes sich wie Netzwerk um ihn legten. Er brach durch das Netz hindurch und stieg wieder in die Lüfte hinauf. Sie hetzten ihn über den See in die Wälder, wo er unversehens wieder in die Tiefe tauchte, wie ein dunkler Stein durch Luft und Licht brach, bis er die Erde berührte und verschwand. Meilen entfernt im Norden tauchte er wieder auf, kniete am Wasserlauf zwischen zwei Seen, kraftlos vor Erschöpfung. Am Ufer neben dem Wasser sank er zusammen. Nach einer Weile regte er sich wieder, senkte sein Gesicht in den Strom und trank.
Als der Abend hereinbrach, spürten sie ihn wieder auf. Er hatte Fische gefangen und zum erstenmal seit zwei Tagen etwas gegessen. Das stille Licht des Nachmittags, die monotone Stimme des Flusses hatten ihn in Schlaf gewiegt. Er fuhr mit einem Ruck aus dem Schlaf hoch, als ein Eichhörnchen laut zu zetern begann, und sah hoch oben am blaugrauen Himmel eine große Schar kreisender Vögel. Augenblicklich ließ er sich ins Wasser fallen und wandelte die Gestalt. Die Strömung schleuderte ihn erbarmungslos von einem Strudel in den anderen, riß ihn flußabwärts in stille Tümpel, wo hungrige Wasservögel sich auf ihn stürzen wollten. Er kämpfte sich wieder flußaufwärts, sah nichts als sich langsam verdunkelnde Wassermassen, die ihn von einer Seite auf die andere warfen und jedesmal, wenn er auftauchte, sein Hirn mit ihrem Tosen erfüllten. Schließlich glitt er in stilleres Wasser. Es wurde tiefer, während er schwamm. Er tauchte zum Grund hinunter, um zu rasten, doch das Wasser wurde finster und still, so tief, daß er emporsteigen mußte, um Luft zu holen, ehe er den Grund überhaupt gefunden hatte. Er schwamm langsam unter der Oberfläche dahin, beobachtete die Nachtfalter, die im Mondlicht umherschwirrten. Er ließ sich treiben, bis der Grund des Sees langsam anstieg und er nahe beim Ufer Schlingpflanzen fand, in denen er sich versteckte. Bis zum Morgen rührte er sich nicht mehr.