Sie beobachtete den Vogel, wie er sich vom Boden emporschwang, schwarz und düster im plötzlich sich verdunkelnden Licht. Er hielt etwas in seinen Klauen. Schwerfällig stand sie auf und machte sich daran, Holz zu sammeln.
»Er braucht sicher einen Spieß.«
Morgon schälte die Rinde von einem jungen, dünnen Ast, während der Vogel zu ihnen zurückgeflogen kam. Er legte einen toten Hasen an Rendels Feuer ab.
Dann stand Yrth wieder vor ihnen. Einen Moment lang schienen seine Augen fremd, voller Klarheit und Wildheit des Raubvogels. Dann aber wurden sie wieder vertraut.
Morgon stellte seine Fragen tonlos, gedämpft.
»Ich witterte seine Furcht«, erklärte der Zauberer. Er zog ein Messer aus seinem Stiefel, ehe er sich setzte. »Wollt Ihr ihn häuten? Das würde mir Schwierigkeiten bereiten.«
Wortlos machte sich Morgon an die Arbeit. Rendel nahm den Spieß, um den Rest der Rinde abzuschälen.
»Könnt Ihr die Sprache der Falken sprechen?« fragte sie unvermittelt, beinahe scheu.
Das blinde Gesicht wandte sich ihr zu. Die plötzliche Weichheit seiner Züge beim Klang ihrer Stimme ließ Morgon beim Häuten innehalten.
»Ein wenig.«
»Könnt Ihr es mich lehren? Müssen wir denn den ganzen Weg nach Herun als Krähen fliegen?«
»Wenn Ihr es wollt. Ich glaubte, da Ihr aus An stammt, würdet Ihr Euch als Krähe am wohlsten fühlen.«
»Nein«, widersprach sie. »Ich bin jetzt in vielen Gestalten zu Hause. Aber es war gut von Euch, daran zu denken.«
»Was für Gestalten sind Euch vertraut?«
»Oh — Vögel, ein Baum, ein Lachs, ein Dachs, ein Reh, eine Fledermaus, eine Vesta — ich habe über meiner Suche nach Morgon längst aufgehört zu zählen.«
»Ihr habt ihn stets gefunden.«
»Ihr auch.«
Zerstreut suchte Yrth auf der Erde um sich herum nach Astgabeln, die den Spieß halten sollten.
»Ja.«
»Ich habe mich auch schon in einen Hasen verwandelt.«
»Der Hase ist ein Beutetier des Falken und des Habichts. Für den, der die Gestalt wandelt, gelten die Gesetze der Erde.«
Morgon warf Haut und Abfälle ins Farnkraut und griff nach dem Spieß.
»Und die Gesetze des Reiches?« fragte er unvermittelt. »Sind sie einem Erdherrn ohne Bedeutung?«
Der Zauberer saß ganz still. Etwas von der erbarmungslosen Kraft des Falken schien sich hinter seinen Augen zu rühren, und Morgon wurde sich der Leichtfertigkeit seiner Herausforderung bewußt. Er wandte sich ab.
»Nicht allen«, antwortete Yrth rätselhaft.
Morgon hängte den Spieß über das Feuer und drehte probeweise den Hasen. Dann ging ihm plötzlich die Zweideutigkeit der Worte des Zauberers auf. Er hockte sich auf seine Fersen und starrte Yrth an. Doch Rendel sprach jetzt mit ihm, und der Ton des Schmerzes, der in ihrer Stimme lag, ließ ihn schweigen.
»Warum denn, glaubt Ihr, kämpfen meine Verwandten auf der Ebene der Winde gegen den Erhabenen? Ich meine, wenn Macht eine einfache Angelegenheit des Wissens um Regen und Feuer ist, und wenn die Gesetze, denen sie verbunden sind, die Gesetze der Erde sind?«
Yrth schwieg wieder. Die Sonne war jetzt endgültig hinter dicken Wolken im Westen verschwunden. Ein Schleier aus Abend und Dunst sank langsam auf sie herab. Yrth streckte den Arm aus, tastete nach dem Spieß und drehte ihn langsam.
»Ich würde annehmen«, meinte er, »daß Morgon recht hat, wenn er vermutet, daß der Erhabene die Kräfte der Erdherren gefesselt hat. Das allein ist Grund genug für sie, gegen ihn zu kämpfen. Doch viele andere Rätsel scheinen mir unter diesem einen Rätsel zu liegen. Vor Jahrhunderten zogen mich die steinernen Kinder in Isig durch die Ausstrahlung ihres Schmerzes, den ich spürte, in ihre Gruft hinunter. Man hatte ihnen ihre Macht genommen. Kinder sind Erben der Macht; vielleicht ist das der Grund, weshalb sie zerstört wurden.«
»Wartet!« Morgons Stimme zitterte. »Wollt Ihr sagen — wollt Ihr sagen, daß der Erbe des Erhabenen in jener Gruft begraben wurde?«
»Es scheint möglich, findet Ihr nicht?« Fett spritzte knisternd im Feuer, und er drehte den Spieß wieder. »Vielleicht war es der Knabe, der mir von den Sternen sprach, die ich auf eine Harfe setzen sollte, und von einem Schwert für einen, der irgendwann in ferner Zukunft kommen würde, es für sich zu beanspruchen.«
»Aber warum?« flüsterte Rendel, noch immer in ihrer Frage gefangen. »Warum?«
»Ihr habt den Flug des Falken gesehen — seine Schönheit und seine todbringende Erbarmungslosigkeit. Wenn solche Macht an kein Gesetz gebunden wäre, dann würden diese Macht und das Gelüst danach so schrecklich werden —«
»Ich verlange nach ihr. Nach dieser Macht.«
Das harte, alte Gesicht schmolz wieder zu überraschender Weichheit. Yrth berührte sie so, wie er den Grashalm berührt hatte.
»Dann nehmt sie Euch.«
Er ließ seine Hand fallen. Rendel senkte den Kopf. Morgon konnte ihre Züge nicht sehen. Er hob den Arm, um ihr das Haar aus dem Gesicht zu streichen. Mit einer heftigen Bewegung stand sie auf und wandte sich von ihm ab. Er blickte ihr nach, als sie durch die Bäume lief, die Arme über ihrer Brust gekreuzt, als wäre ihr kalt. Ein tiefer Schmerz brannte plötzlich in ihm, weil der Zauberer sie berührt hatte und sie ihn verlassen hatte.
»Ihr habt mir nichts gelassen.« flüsterte er.
»Morgon —«
Er stand auf und folgte Rendel in das dichter werdende Wogen des abendlichen Nebels, ließ den Falken mit seiner Beute allein.
In den folgenden Tagen flogen sie manchmal als Krähen, manchmal, wenn der Himmel aufklarte, als Falken. Zwei der Falken sprachen miteinander in schrillen Stimmen; der dritte, der sie hörte, blieb stumm. In Falkengestalt machten sie Jagd; schliefen und erwachten und blickten mit klaren, wilden Augen zur Sonne auf. Wenn es regnete, flogen sie als Krähen, kämpften sich mit stetigem Flügelschlag durch den strömenden Regen. Endlos trieben die Bäume unter ihnen dahin; es war, als flögen sie wieder und wieder über dasselbe Gelände. Doch während Regen auf sie hinunterprasselte und wieder versiegte, während die Sonne geisterhaft bleich durch die Wolken spähte, verdichtete sich ein bläulicher Schleier vor ihnen am Horizont langsam zu einer fernen Kette von Hügeln. Für ein paar Augenblicke kam unversehens die Sonne hervor, ehe sie in Nacht versank. Lichtstrahlen fielen über das weite Land, spiegelten sich in den silbernen Bändern von Flüssen und funkelten auf Seen, die wie kleine Münzen auf der grünen Erde lagen. Die Falken flogen müde, in einer gestaffelten Linie, die sich über eine halbe Meile erstreckte. Der zweite, verzaubert, wie es schien, vom Licht, schoß plötzlich aufwärts, mitten in die Sonne hinein und jagte dann in geradem, überschwenglichem Flug durch Licht und Schatten ihrem Ziel zu. Sein Überschwang riß Morgon aus seinem eintönigen Rhythmus. Er flog schneller, schoß vorbei an dem führenden Falken, um den dunklen Blitz einzuholen, der durch die Himmel raste. Er hatte nicht gewußt, daß Rendel so schnell fliegen konnte. Auf den Strömungen des Nordwindes jagte er dahin, doch noch immer hielt der Falke seinen Abstand. Mit aller Kraft setzte er ihm nach, bis er das Gefühl hatte, seine Gestalt hinter sich gelassen zu haben und nur noch Geschwindigkeit zu sein, die auf einer Welle von Licht durch die Luft getragen wurde. Langsam näherte er sich dem Falken und sah die Spannweite seiner Schwingen und erkannte, daß es Yrth war.
Er behielt seine Geschwindigkeit bei, getrieben von dem Verlangen, den Falken in der ganzen stolzen Herrlichkeit seiner Macht und seiner Kraft einzuholen und zu übertrumpfen. Er warf alle seine Energien in seinen pfeilschnellen Flug, und ihm war, als pfeife der Wind durch ihn hindurch. Die Wälder wogten wie ein Meer unter ihm. Schnabellänge um Schnabellänge schloß er zu dem anderen Falken auf, bis er wie sein Schatten im goldenen Licht hinter ihm herflog. Und dann war er neben ihm, hielt seine Geschwindigkeit, während seine Schwingen seinem Rhythmus folgten. Er konnte ihn nicht überholen. Er raste durch Luft und Licht, bis er selbst sein wütendes Verlangen abwerfen mußte wie Ballast, um seine Geschwindigkeit zu halten. Der Falke ließ ihn nicht vorbei, doch er trieb ihn zu immer schnellerem Flug an, bis all seine Gedanken und ein Schatten über seinem Herzen von ihm abgestreift wurden und er das Gefühl hatte, daß er im Wind verbrennen müßte, wenn er noch einen Herzschlag schneller flog.