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»Für den Fall, daß du getötet werden solltest«, sagte Lyra scharf. »Ich verstehe nicht, weshalb du überhaupt dorthin willst, aber ich werde an deiner Seite reiten —«

»Lyra —«

»Mutter, das ist meine Entscheidung. Dir zu gehorchen, ist für mich nicht mehr Ehrensache. Ich werde tun, was ich beliebe, und es beliebt mir, mit dir zu reiten.«

Die Finger der Morgol verkrampften sich um ihren Weinbecher. Sie schien selbst überrascht davon.

»Nun«, entgegnete sie ruhig, »wenn du glaubst, in dieser Angelegenheit nach eigenem Belieben handeln zu können, so kann auch ich das tun. Du bleibst hier. So oder so.«

Lyras Augen flackerten ein wenig.

»Mutter«, protestierte sie unsicher.

»Ja«, gab die Morgol zurück. »Und ich bin außerdem die Morgol. Herun schwebt in großer Gefahr. Wenn Ymris fällt, dann möchte ich, daß du hier bist, um das Land zu beschützen, soweit es in deiner Macht steht. Wenn wir beide in Ymris fielen, wäre das für Herun eine Katastrophe.«

»Aber warum wollt Ihr überhaupt reisen?«

»Weil Har sich nach Ymris begibt«, antwortete die Morgol ruhig, »und ebenso Danan und Mathom — die Landherrscher des Reiches, sie alle fühlen sich getrieben, in Ymris für das Überleben des Reiches zu kämpfen —, vielleicht treibt sie auch ein anderer, noch zwingenderer Grund. Im Herzen des Reiches liegt ein Gewirr von Rätseln verborgen; ich möchte es entwirrt sehen. Selbst unter Gefahr für mein Leben. Ich will endlich Lösungen.«

Lyra schwieg. Die Gesichter von Mutter und Tochter waren im weißen Schein des Feuers beinahe nicht voneinander zu unterscheiden in ihrer feinen, ebenmäßigen Schönheit. Doch die goldenen Augen der Morgol verbargen ihre Gedanken, während Lyras Augen jedem Flackern von Feuer und Schmerz weit offen waren.

»Der Harfner ist tot«, flüsterte sie. »Wenn das das Rätsel sein sollte, das du gelöst sehen möchtest.«

Die Morgol senkte die Lider. Doch dann hob sie die Hand und berührte mit einer flüchtigen Bewegung Lyras Wange.

»Es gibt noch andere ungelöste Fragen im Reich«, bemerkte sie, »und fast alle sind, glaube ich, wichtiger.« Doch ihre Brauen waren zusammengezogen wie von einem plötzlichen, unerklärlichen Schmerz. »Rätsel ohne Lösungen können schrecklich sein«, fügte sie nach einem Moment des Schweigens hinzu. »Aber es gibt einige, mit denen man leben kann. Andere. Yrth meint, daß das, was der Sternenträger auf der Ebene der Winde tun wird, für uns alle von lebenswichtiger Bedeutung sein wird.«

»Und ist er der Meinung, daß auch du dort sein mußt? Wenn die Ebene der Winde von so entscheidender Bedeutung ist, wo ist dann der Erhabene? Warum ignoriert er den Sternenträger und das ganze Reich?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht kann Morgon —«

Abrupt hob sie den Kopf und sah ihn ruhig im Schatten stehen, wo langsam seine eigenen Gedanken wieder in seinem Geist erwachten.

Sie lächelte und streckte ihm willkommenheißend die Hand entgegen. Yrth drehte sich ein wenig und blickte, vielleicht durch ihre Augen, Morgon entgegen, als dieser sich langsamen Schrittes der Tafel näherte. Morgon sah ihn einen Moment lang auf seltsame „Weise, wie etwas, das den Nebeln und den Felsnadeln von Herun verwandt war, die sein Geist erkunden und verstehen konnte. Als er sich setzte, schien es, als wende der Zauberer sein Gesicht von ihm ab. Wortlos neigte Morgon den Kopf vor der Morgol.

»Habt Ihr gefunden, was Ihr hier suchtet?« fragte sie.

»Ja. Alles, was ich in mich aufnehmen konnte. Wie lange war ich fort?«

»Beinahe zwei Wochen.«

»Zwei.« Er formte das Wort lautlos. »So lange? Gibt es Neues?«

»Sehr wenig. Es waren Händler aus Hlurle da, um alle Waffen, die wir entbehren können, nach Caerweddin zu bringen. Seit Tagen beobachte ich eine Nebelwolke, die sich von Osterland südwärts wälzt, und heute weiß ich endlich, was es ist.«

»Eine Nebelwolke?« Er erinnerte sich, wie Har vor dem rotflackernden Licht des Feuers seine gezeichnete Hand geöffnet hatte. »Vesta? Bringt Har die Vesta nach Ymris?«

»Hunderte. Sie ziehen im Schatten der Wälder nach Süden.«

»Die Vesta sind großartige Kämpfer«, bemerkte Yrth. Er wirkte müde, nicht geneigt, sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen, doch seine Stimme war voll von Langmut und Geduld. »Und sie werden den Winter in Ymris nicht fürchten.«

»Ihr habt es gewußt!« Mit einem Ruck wurden seine Gedanken aus ihrer Ruhe gerissen. »Ihr hättet ihn hindern können. Die Bergleute, die Vesta, die Wachen der Morgol — warum zieht Ihr sein solches Heer kriegsunkundiger und praktisch wehrloser Kämpfer zusammen? Ihr mögt blind sein, aber wir anderen werden zusehen müssen, wie diese Tiere und Menschen auf dem Schlachtfeld niedergemetzelt werden —«

»Morgon«, unterbrach die Morgol sanft, »Yrth trifft nicht meine Entscheidungen für mich.«

»Yrth —« Er brach ab und senkte den Kopf in die Hände, nicht willens, die sinnlose Auseinandersetzung fortzuführen.

Yrth stand auf und zog wieder Morgons Augenmerk auf sich. Ein wenig ungeschickt ging der Zauberer zwischen den Sitzkissen hindurch zum Feuer. Vor den Flammen blieb er mit gesenktem Kopf stehen. Morgon sah, wie seine zerschundenen Hände sich plötzlich zusammenkrampften unter Worten, die er nicht aussprechen konnte, und er dachte an Thods Hände, wie er sie damals gesehen hatte, gekrümmt vor Schmerz im Feuerschein. Und aus der Stille der Nacht von Herun kam ihm ein Echo des seltsamen, flüchtigen Friedens, den er, eingehüllt in das Schweigen des Harfners, an seinem Feuer gefunden hatte. Alle jene Empfindungen, die ihn an den Harfner banden und an den Falken, seine Sehnsucht und seine unbegreifliche Liebe, überwältigten ihn plötzlich. Während er zusah, wie Licht und Schatten dem harten, blinden Gesicht immer wieder neuen Ausdruck gaben, wurde ihm klar, daß er alles preisge-ben würde: die Vesta, die Wache der Morgol, die Landherr-scher, das ganze Reich. All dies war er bereit, für einen Platz im Schatten des Falken in die zerschundenen, schmerzgequälten Hände zu legen.

Diese Erkenntnis senkte eine merkwürdige, unbehagliche Ruhe in ihn. Er neigte den Kopf und starrte auf sein eigenes dunkles Spiegelbild im glänzenden Stein, bis Lyra, deren Blick auf ihn gerichtet war, plötzlich sagte: »Ihr müßt hungrig sein.« Sie schenkte ihm Wein ein. »Ich bringe Euch etwas Warmes zu essen.«

Mit geschmeidigem, anmutigem Schritt eilte sie aus dem Saal, und die Morgol blickte ihr nach. Sie sah müde aus, müder, als Morgon sie je gesehen hatte.

»Bergleute und Vesta und meine Wache«, sagte sie zu Morgon, »mögen in Ymris nutzlos erscheinen, aber, Morgon, die Landherrscher geben alle Kraft, die sie besitzen. Anderes können wir nicht tun.«

»Ich weiß.« Sein Blick wanderte zu ihr. Er wußte um ihre eigene Liebe zu einer alten Erinnerung. Und weil er ihr, für alles was sie ihm gegeben hatte, ein wenig Frieden zurückgeben wollte, sagte er unvermittelt: »Ghisteslohm berichtete mir, daß Ihr bei Lungold auf Thod gewartet habt. Ist das wahr?«

Sie schien ein wenig bestürzt über seine brüske Art, doch sie nickte.

»Ich dachte, er würde vielleicht nach Lungold kommen. Es war der einzige Ort, wohin er sich noch wenden konnte, und ich hätte ihn fragen können. Morgon, wir sind beide müde, Ihr und ich, und der Harfner ist tot. Vielleicht sollten wir —«

»Er starb — er starb für Euch.«

Über den Tisch hinweg starrte sie ihn an. »Morgon«, flüsterte sie warnend, doch er schüttelte den Kopf.

»Es ist wahr. Rendel hätte es Euch sagen können. Oder Yrth — er war dabei.«

Der Zauberer richtete helle, ausgebrannte Augen auf ihn, und Morgons Stimme begann zu zittern. Doch er fuhr fort zu sprechen, gab dem Harfner das Rätsel seines Lebens ungelöst zurück.

»Ghisteslohm ließ Thod wählen. Er sollte entweder Rendel oder Euch als Geisel festhalten, um Ghisteslohm die Möglichkeit zu geben, mich gewaltsam in den Erlenstern-Berg zurückzubringen. Doch Thod wählte statt dessen den Tod. Er zwang Ghisteslohm, ihn zu töten. Er hatte kein Mitleid mit mir. Vielleicht weil ich es auch ohne aushaken konnte. Doch Euch und Rendel hat er geliebt.« Er hielt inne und erschrak ein wenig, als sie die Hände vor ihr Gesicht schlug. »Habe ich Euch weh getan? Das wollte ich nicht —«