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»Nein.«

Doch sie weinte, er sah es, und er verfluchte sich selbst. Yrth blickte ihn noch immer an; er fragte sich, wie der Zauberer jetzt sehen konnte, da Rendels Gesicht hinter ihrem Haar verborgen war. Der Zauberer machte eine seltsame Bewegung. Er hob eine weitgeöffnete Hand zum Licht, als lieferte er Morgon etwas aus. Er streckte den Arm aus, berührte die Luft hinter Morgon, und die gestirnte Harfe sprang aus dem Nichts in seine Hände.

Die Augen der Morgol schweiften zu Morgon, als die ersten süßen Töne erklangen, doch seine Hände waren leer. Er starrte auf Yrth, und alle Worte, die er hätte sprechen wollen, erstarrten in seiner Kehle zu Eis. Die kräftigen Hände des Zauberers glitten mit makelloser Exaktheit über die Saiten, die er gestimmt hatte; die Gesänge der Winde und des Wassers antworteten ihm. Es war das Harfenspiel jener endlosen, schwarzen Nacht im Erlenstern-Berg, mit all seiner tödlichen Schönheit; das Harfenspiel, das die Könige im ganzen Reich jahrhundertelang gehört hatten. Es war das Harfenspiel eines großen Zauberers, den man früher einmal den Harfner von Lungold genannt hatte, und die Morgol lauschte versunken, ergriffen und ein wenig überrascht. Dann wechselte der Harfner zu einer anderen Weise, und alles Blut wich aus den Wangen.

Es war ein tieftönendes, inniges Lied ohne Worte, das in Morgon Erinnerungen an einen dunklen, nebelgrauen Abend über den Sümpfen von Herun weckte, an ein Feuer, das auf den Gesichtern der Wachen der Morgol flackerte, an Lyra, die geräuschlos aus der Nacht trat und etwas sagte. Er lauschte angespannt, um ihre Worte zu hören. Als er dann auf das weiße, stille Gesicht der Morgol blickte, die Yrth unverwandt anstarrte, fiel ihm ein, daß dies das Lied war, das Thod allein für sie komponiert hatte.

Ein Schauder durchrann Morgon. Während die weichen Klänge durch die Stille tropften, fragte er sich, wie der Harfner sich ihr gegenüber jemals würde rechtfertigen können. Yrths Hände entlockten der Harfe einen letzten, sanften Akkord, dann legten die Finger sich flach auf die Saiten, um sie zum Verstummen zu bringen. Den Kopf leicht über die Harfe geneigt, saß er da, die Hände auf den Sternen. Feuerschein spülte zuckend über ihn hin, wob Muster aus Licht und Schatten in die Luft. Morgon wartete darauf, daß er sprechen würde. Er sagte nichts; er regte sich nicht. Augenblicke verstrichen; immer noch saß er in tiefer Stille, und Morgon, der ihr lauschte, erkannte, daß diese Stille nicht eine Ausflucht war, sondern die eigentliche Antwort.

Er schloß die Augen. Sein Herz schlug plötzlich schmerzhaft bis zum Hals hinauf. Er wollte sprechen, aber er konnte nicht. Das Schweigen des Harfners umhüllte ihn mit dem Frieden, den er tief in allem Lebendigen überall im Reich gefunden hatte. Der Friede durchdrang seine Gedanken, sein Herz und seinen Geist, so daß er nicht einmal denken konnte. Er wußte nur, daß etwas, nach dem er so lange und so hoffnungslos gesucht hatte, niemals, selbst in seinen verzweifeltsten Augenblicken nicht, weit von ihm entfernt gewesen war.

Der Harfner stand auf, sein müdes, uraltes Gesicht war das verwitterte Gesicht eines Berges, das zerschundene Gesicht des Reiches. Lange hielten seine Augen die der Morgol fest, bis ihr Gesicht, das von einer durchscheinenden Blässe war, zu zucken begann und sie mit tränenblinden Augen zu Boden starrte. Dann trat er zu Morgon und streifte ihm die Harfe wieder über die Schulter. Wie in einem Traum spürte Morgon die leichten, raschen Bewegungen. Er schien einen Moment lang zu verharren; seine Hand berührte sehr sanft Morgons Gesicht. Dann trat er zum Feuer und verschmolz im Spiel seiner Flammen.

Kap. 14

Erst da bewegte sich Morgon, aus der Stille entlassen. Er sandte seinen Geist in die Dunkelheit hinaus, doch wo er auch suchte, er fand nur die Stille und das Schweigen der Nacht. Er stand auf. Worte schienen in seiner Brust und in seinen geballten Händen eingeschlossen, als wagte er nicht, sie freizulassen. Die Morgol schien zum Sprechen ebenso unfähig. Sie machte eine kleine, steife Bewegung, dann wurde sie wieder still, den Blick auf einen tanzenden Lichtreflex auf dem glänzenden Holz des Tisches gerichtet. Langsam gewann ihr Gesicht wieder Farbe. Und als Morgon sah, wie ihr Antlitz sich veränderte, löste sich endlich seine Zunge.

»Wohin ist er gegangen?« flüsterte er. »Er hat mit Euch gesprochen.«

»Er sagte — er sagte, er hätte gerade die einzige Torheit in seinem sehr langen Leben begangen.« Ihr Hände krampften sich ineinander; stirnrunzelnd blickte er auf sie nieder, während sie sich bemühte, sich zu konzentrieren. »Er sagte, er hätte nicht die Absicht gehabt, sich Euch zu erkennen zu geben, bis Ihr genug der Kräfte gesammelt hättet, für Euch selbst zu kämpfen. Er ging, weil er jetzt eine Gefahr für Euch ist. Er sagte — noch anderes.« Sie schüttelte leicht den Kopf, dann sprach sie weiter. »Er sagte, er wäre sich nicht bewußt gewesen, daß seine eigene Fähigkeit, zu leiden, Grenzen hätte.«

»Die Ebene der Winde! Er muß in Ymris sein.«

Da hob sie den Blick, aber sie widersprach nicht.

»Sucht ihn, Morgon. Ganz gleich, wie gefährlich das für Euch beide ist. Er war lange genug allein.«

»Ja, ich werde ihn suchen.« Er drehte sich um und kniete neben Rendel nieder. Sie starrte ins Feuer; erst als er sie berührte, sah sie ihn an. Etwas Wildes, nur halb Menschliches spiegelte sich in ihren Augen, so als hätte sie in die Erinnerungen des Erhabenen hineingeblickt. Er nahm ihre Hand.

»Komm mit mir.«

Sie stand auf. Er verband seinen Geist mit dem ihren und ließ ihn weit in die Nacht hinausfliegen, bis er einen Stein berührte, der, wie er sich erinnerte, jenseits der Sümpfe lag. Als Lyra den Saal betrat, um ihm sein Nachtmahl zu bringen, trat er einen Schritt auf sie zu und verschwand.

Sie standen zusammen im Nebel und sahen nichts als schattenhafte Weiße, die sie umgab wie eine Schar von Geistern. Morgon schickte wieder seinen Geist aus, hinaus aus den Nebelschwaden, über die Hügelketten hinweg, ließ ihn weiter fliegen als je zuvor. Er verankerte sich im knorrigen Herzen einer Fichte. Morgon folgte mit seinem Körper.

Als er in den von Winden gepeitschten Wäldern zwischen Herun und Ymris neben dem alten Baum stand, spürte er plötzlich, wie seine überanstrengten Kräfte nachließen. Er konnte sich kaum noch konzentrieren; seine Gedanken schienen vom Wind zerfetzt. Sein Körper, auf den er in letzter Zeit nur gelegentlich geachtet hatte, meldete seine Bedürfnisse an. Er fröstelte vor Kälte; die Erinnerung an den würzigen Duft heißen Fleisches, das Lyra in den Saal gebracht hatte, wollte ihn nicht loslassen. Episoden aus dem Leben des Harfners schössen ihm in raschen Bildern durch den Kopf. Er hörte die wohlklingende, gelassene Stimme, die mit Königen, mit Händlern und mit Ghisteslohm sprach, und er sah das Antlitz des Harfners vor sich, der immer Rätsel aufgegeben hatte, nicht mit seinen Worten, sondern mit alldem, was er nicht aussprach. Dann schoß eine Erinnerung wie sengendes Feuer durch Morgons Gedanken, und ein Laut des Entsetzens kam ihm über die Lippen. Er spürte, wie der Nordwind an ihm rüttelte.

»Ich hätte ihn beinahe getötet.« Er war außer sich über seine Blindheit. »Ich habe den Erhabenen durch das ganze Reich gehetzt, um ihn zu töten.« Dann aber bohrte sich ein scharfer, vertrauter Schmerz in sein Herz. »Er lieferte mich Ghisteslohm aus. Und dabei hätte er den Gründer mit einem Wort töten können. Statt dessen spielte er auf seiner Harfe. Kein Wunder, daß ich ihn niemals erkannte.«

»Morgon, es ist kalt.« Rendel legte einen Arm um ihn; selbst ihr Haar fühlte sich an seinem Gesicht kalt an.