Er versuchte, seinen Geist zu leeren, doch die Winde erfüllten ihn mit ihren Klagen, und er sah wieder das Gesicht des Harfners, wie es blind zum Himmel emporstarrte.
»Er war ein Herr.«
»Morgon.«
Er spürte, wie ihr Geist forschend in den seinen eindrang. Überrascht ließ er es geschehen. Sie zu spüren, beruhigte ihn; ihre eigenen Gedanken waren sehr klar. Er löste sich von ihr, blickte durch die Dunkelheit in ihr Gesicht.
»Um meinetwillen warst du nie so zornig.«
»Oh, Morgon!« Sie hielt ihn wieder umschlungen. »Du hast es selbst gesagt — du kannst aushaken. Und so braucht er dich, deshalb überließ er dich Ghisteslohm. Ich drücke das schlecht aus.« sagte sie ärgerlich, als seine Muskeln sich spannten. »Du hast gelernt zu überleben. Glaubst du, für ihn war es leicht? Jahrhundertelang in Ghisteslohms Diensten auf der Harfe zu klimpern und auf den Sternenträger zu warten?«
»Nein«, erwiderte er nach einem kurzen Schweigen und dachte an die zertrümmerten Hände des Harfners. »Er sprang mit sich selbst so erbarmungslos um wie mit mir. Aber wozu?«
»Suche ihn. Frage ihn.«
»Ich kann mich nicht einmal bewegen«, flüsterte er.
Wieder berührte ihr Geist den seinen; und da ließ er endlich seine Gedanken in ihrer Annäherung zur Ruhe kommen. Er wartete geduldig, während sie die Nacht erkundete. Schließlich berührte sie ihn. Er ging mit ihr, ohne zu wissen, wohin er ging, und da begann er zu begreifen, wieviel Geduld und Vertrauen er von ihr verlangt hatte. Sie gingen nicht sehr weit, das spürte er, doch er wartete müde und dankbar, während sie Schritt um Schritt ihren gemeinsamen Weg durch die Wälder ertastete. Bei Morgendämmerung hatten sie die nördliche Grenze von Ymris erreicht. Und dort, als die rote Sonne aufstieg, die Stürme und widrige Winde kündete, machten sie Rast.
In der Gestalt von Rabenkrähen flogen sie über Marcher hinweg. Das rauhe, wellige Grenzland schien ruhig; doch am späten Nachmittag sichteten die Krähen eine Schar bewaffneter Männer. Sie bewachten einen Zug von Handelswagen, der sich schwerfällig nach Caerweddin hin bewegte. Morgon stieß abwärts. Er fing den Geist eines der Krieger ein, als er auf der Straße landete, um nicht angegriffen zu werden, wenn er die Gestalt wechselte. Er zog sein Schwert aus der Luft, hielt die Sterne hoch, als der Mann ihn anstarrte. Unruhig flammten sie im grauen Licht auf.
»Morgon von Hed«, hauchte der Krieger.
Es war ein grauhaariger, altgedienter Krieger, mit einem von Narben durchzogenen Gesicht; seine umschatteten Augen hatten durch die Morgendämmerung und das tödliche Zwielicht vieler Felder geblickt. Er hielt den Wagenzug an, der ihm folgte, und sprang von seinem Pferd. Die Männer hinter ihm schwiegen.
»Ich muß Yrth finden«, sagte Morgon. »Oder Aloil. Oder Astrin Ymris.«
Der Mann berührte die Sterne auf seinem erhobenen Schwert mit einer ehrfürchtigen Geste, die beinahe wie ein Treueschwur wirkte. Dann riß er die Augen auf, als eine Rabenkrähe auf Morgons Schulter landete.
»Ich bin Lein Marcher, der Vetter des Herrn von Marcher«, sagte er. »Ich kenne Yrth nicht. Astrin Ymris ist in Caerweddin; er könnte Euch sagen, wo Aloil zu finden ist. Ich bringe Waffen und Proviant nach Caerweddin, wenn ich auch bezweifle, daß das noch etwas helfen wird. Ich an Eurer Stelle, Sternenherr, würde mich in diesem Land, das dem Untergang geweiht ist, nicht zeigen. Und schon gar nicht würde ich die drei Sterne zeigen.«
»Ich bin gekommen, um zu kämpfen«, erwiderte Morgon.
Flüsternd begann das Land ihm von seinen Gesetzen zu sprechen, von Legenden, von den alten Toten, die unter seinen Füßen begraben waren. Sein eigener Körper schien danach zu verlangen, sich im Wesen dieses Landes zu verlieren.
Die Augen des Kriegers wanderten über das schmale Gesicht, den kostbaren, abgetragenen Kittel, der in diesen gefährlichen, winterkalten Hügeln ein wenig absurd wirkte.
»Hed«, sagte er. Ein verwundertes Lächeln brach plötzlich durch die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in seinen Augen. »Warum nicht! Wir haben alles andere versucht. Ich würde Euch mitnehmen, Herr, aber ich glaube, allein seid Ihr sicherer. Es gibt nur einen im Reich, den zu sehen Astrin mehr verlangt als Euch, aber nicht einmal darauf möchte ich wetten.«
»Heureu. Er ist immer noch verschwunden?«
Der Mann nickte müde.
»Irgendwo im Reich zwischen den Toten und Lebendigen. Nicht einmal der Zauberer kann ihn finden. Ich glaube —«
»Ich kann ihn finden«, fiel Morgon ihm ins Wort.
Der Mann schwieg, und das Lächeln in seinen Augen wich nackter, unerträglicher Hoffnung.
»Wirklich? Nicht einmal Astrin kann das, und seine Träume sind voll von Heureus Gedanken. Herr, was — was seid Ihr, daß Ihr hier fröstelnd in der Kälte stehen und mich bewegen könnt, an Eure Macht zu glauben? Ich habe das Gemetzel auf der Ebene der Winde überlebt. Manchmal, wenn ich nachts von meinen eigenen Träumen aus dem Schlaf gerissen werde, wünsche ich, ich wäre dort gefallen.« Er schüttelte den Kopf. Seine Hand streckte sich wieder nach Morgon aus, sank dann herab, ohne ihn zu berühren. »Geht jetzt. Laß Eure Sterne niemanden sehen. Möge Euer Weg Euch wohlbehalten nach Caerweddin führen. Eilt, Herr!«
Die Krähen flogen ostwärts. Immer wieder sichteten sie lange Züge von Nachschubwagen und Pferden. Sie rasteten unter den Giebeln großer Häuser, deren Höfe angefüllt waren vom Qualm und vom Dröhnen der Schmiedeherde. Die leuchtenden Farben von-Kriegsuniformen und die dunklen, schützenden Flanken von Ackergäulen schimmerten durch den Qualm, und allenthalben sammelten sich Männer, nach Caerweddin zu marschieren. Knaben waren unter ihnen und Schafhirten, Bauern, Schmiede mit Gesichtern, die von Wind und Wetter gegerbt waren; selbst Händler reihten sich in die Schar ein. Alle wurden sie unter Waffen gestellt. Diese Beobachtungen trieben die Krähen vorwärts. Sie folgten dem Thul auf seinem Lauf zum Meer, schnitten einen dunklen Pfad durch die sterbenden Felder.
Bei Sonnenuntergang erreichten sie Caerweddin; der von windzerfetzten Wolkenstreifen durchzogene Abendhimmel leuchtete wie ein farbenprächtiges Banner. Tausend Feuer umringten die Stadt, als wäre sie unter Belagerung ihrer eigenen Streitkräfte. Doch der Hafen war frei; Handelsschiffe aus Isig und Anuin glitten ihm auf der abendlichen Flut entgegen. Das prächtige Haus der Könige von Ymris, das aus Trümmern der Städte der Erdherren errichtet war, funkelte wie ein Edelstein im letzten Licht. In den Schatten vor seinen geschlossenen Toren gingen die Krähen zur Erde nieder. Dort, auf der leergefegten Straße, wechselten sie die Gestalt.
Sie sprachen nichts, als sie einander ansahen. Morgon zog Rendel an sich, während er sich fragte, ob seine eigenen Augen auch so betäubt waren vor Müdigkeit. Er berührte ihren Geist; und als er dann in das Haus des Königs eindrang, fand er den Geist Astrins.
Der Landerbe von Ymris saß allein in einem kleinen Gemach, als Morgon vor ihm auftauchte. Er hatte gearbeitet; Landkarten, Dokumente, Nachschublisten und alle möglichen anderen Papiere lagen auf seinem ganzen Schreibpult zerstreut. Doch die Kammer lag beinahe in Dunkelheit, und er hatte keine Kerzen angezündet. Sein von Sorgen durchfurchtes, bleiches Gesicht starrte ins Feuer. Morgon und Rendel, die von der Straße in die verschwommenen Schleier von Licht und Schatten traten, erschreckten ihn nicht einmal. Er starrte sie einen Moment lang an, als besäßen sie nicht mehr Substanz als seine Hoffnung. Dann aber wandelte sich sein Gesicht; er sprang auf, so daß sein Stuhl hinter ihm krachend umkippte.
»Wo seid Ihr gewesen?«
Erleichterung, Anteilnahme und gereizte Ungeduld mischten sich in seiner Frage.
Morgon antwortete schlicht: »Ich habe Rätsel gelöst.«
Astrin kam um sein Schreibpult herum und drückte Rendel in einen Sessel. Er gab ihr Wein zu trinken, und die Starrheit in ihrem Gesicht löste sich langsam. Astrin, der halb kniend neben ihr hockte, blickte ungläubig zu Morgon auf.