Duac legte eine Hand auf seine Schulter.
»Er weiß es schon. Seid vorsichtig.«
»Natürlich.« Er drehte den Kopf und traf Rendels Blick. Sie rührte sich nicht, und sie sagte kein Wort, machte ihn so ebenfalls sprachlos, und er verlor sich erneut in Erinnerungen. Schließlich brach er ihr Schweigen, als bräche er einen Bann.
»Wir sehen uns in Caithnard.«
Er küßte sie und wandte sich rasch ab. Mit großen Schritten eilte er auf das Führungsschiff. Die Rampe wurde hinter ihm hochgezogen. Bri Corvett stand an einer offenen Luke.
Als Morgon die Leiter in den lichtlosen Laderaum hinunterstieg, fragte er besorgt: »Wollt Ihr wirklich da unten bei den Toten bleiben?«
Morgon nickte wortlos. Bri schloß die Luke hinter ihm. Er stolperte über Tuchballen und fand schließlich einen Stapel von Gewürzsäcken, auf dem er sich niederließ. Er spürte, wie das Schiff langsam aus dem Hafen glitt, fort von Anuin, dem offenen Meer entgegen. Er saß gegen die Planken des Laderaums gelehnt, hörte das Klatschen des Wassers, das von außen ans Holz schlug. Stumm und unsichtbar umgaben ihn die Toten, und ihre Seelen wurden still, als sie ihrer Vergangenheit davonsegelten. Morgon ertappte sich dabei, wie er versuchte, ihre Gesichter aus dem schwarzen Dunkel herauszuheben. Er zog die Knie hoch, drückte sein Gesicht gegen, die Arme und lauschte dem Wasser. Wenig später hörte er, wie die Luke geöffnet wurde.
Lautlos holte er Atem und blies die Luft wieder aus. Licht flackerte vor seinen geschlossenen Lidern. Jemand stieg die Leiter herab, bahnte sich einen Weg zwischen Säcken und Tuchballen hindurch, setzte sich neben ihm nieder. Würziger Duft von Pfeffer und Ingwer wehte auf. Die Luke wurde wieder geschlossen.
Er hob den Kopf und sagte zu Rendel, die nur ein Schemen war, das er atmete, die nur einen feinen Hauch frischer Meeresluft verströmte: »Willst du denn dein Leben lang mit mir streiten?«
»Ja«, antwortete sie trotzig.
Er ließ den Kopf wieder auf die Knie sinken. Nach einer Weile hob er einen Arm, fand in der Dunkelheit ihr Handgelenk und dann ihre Finger. Er starrte in die Nacht, während er ihre von Narben gezeichnete linke Hand in seinen beiden hielt und an sein Herz drückte.
Kap. 2
Vier Nächte später trafen sie in Hed ein. Sechs der Handelsschiffe waren nach Westen in den Kanal abgeschwenkt, um in Caithnard zu warten; Bri segelte sein Schiff nach Tol. Morgon, der erschöpft war vom stetigen Horchen auf Unheil und Verhängnis, wurde aus einem leichten Dämmerschlaf gerissen, als der Rumpf des Schiffes leicht gegen das Dock prallte. Schreckhaft fuhr er hoch und hörte, wie Bri mit irgend jemandem schimpfte. Die Luke öffnete sich; Licht blendete ihn. Er roch Erde.
Sein Herz begann plötzlich heftig zu hämmern. Rendel, die in Pelze eingehüllt neben ihm lag, hob schläfrig den Kopf.
»Ihr seid zu Hause«, verkündete Bri, der lächelnd hinter dem Licht stand.
Morgon stand auf und kletterte zum Deck hinauf. Tol war eine Handvoll von Häusern, die verstreut im Schatten der dunklen Küstenfelsen lagen. Die warme, stille Luft roch vertraut nach Kühen und Getreide.
Er wurde sich erst bewußt, daß er gesprochen hatte, als Bri das Licht löschte und ihm antwortete.
»Noch vor Mitternacht. Wir haben es schneller geschafft, als ich dachte.«
Eine Woge rollte träge den Strand hinauf, zerfloß in einem Gespinst silbern schimmernden Schaums, als sie sich brach. Knochenbleich wand sich die Küstenstraße vom Hafen weg, um im Schatten der Felsen zu verschwinden. Morgon blickte zur Höhe der Felsen hinauf, um jene Stelle zu suchen, wo ihr helles Band wieder auftauchte, um Weiden und Felder zu teilen, bis es schließlich an der Schwelle von Akren abriß. Seine Hände an der Reling verkrampften sich; aus blinden Augen blickte er zurück auf die lange, gewundene Straße, die ihn auf einem Schiff voll von Toten nach Hed geführt hatte, und die Küstenstraße nach Akren schien ihm plötzlich nicht viel mehr als ein weiteres kurzes Stück Wegs, das in die Finsternis führte.
Rendel sprach seinen Namen, und seine Hände lockerten sich.
Er hörte das Aufschlagen der Rampe auf dem Dock.
»Ich bin vor Morgengrauen zurück«, sagte er zu Bri. Mit einer raschen Bewegung berührte er die Schulter des Kapitäns. »Danke Euch.«
Er führte Rendel vom Hafen fort, vorbei an den träumenden Fischerhäusern und den morschen, alten Booten, auf denen die Möwen schliefen. Den Weg, der durch die Schatten zum Felsplateau hinaufführte, hatte er noch im Kopf. Sanft gekräuselt lagen die Felder im Mondlicht, umwogten Hügel und Gräben, um sich aus allen Richtungen um Akren zu schließen. Die Nacht war still; als er lauschte, hörte er die trägen, friedlichen Atemzüge der Kühe und das sachte Wimmern eines Hundes, der träumte. Auf Akren brannte ein Licht, über der Veranda, meinte Morgon, doch als sie näher kamen, sah er, daß der Lichtschein aus dem Inneren des Hauses drang. Rendel, die schweigend an seiner Seite ging, ließ ihren Blick über niedrige Mauern schweifen, die die Felder abgrenzten, über Reihen von Bohnenstangen, über halbreifen Weizen. Sie brach ihr Schweigen erst, als sie so nahe an Akren herangekommen waren, daß man die Linien des Daches sehen konnte, die sich schräg vor dem Sternenhimmel abhoben.
»So ein kleines Haus«, sagte sie überrascht.
Er nickte. »Kleiner, als ich es in Erinnerung habe.«
Seine Kehle war wie zugeschnürt. In einem Stubenfenster sah er Bewegung im trüben Kerzenlicht, und er fragte sich, wer so spät in der Nacht im Haus noch aufsaß. Dann traf ihn unerwartet der Geruch nach feuchter Erde und rankendem Wurzelwerk; Erinnerung auf Erinnerung durchdrang ihn mit Trieben und Wurzeln von Landrecht, bis er den Bruchteil einer Sekunde lang seinen Körper gar nicht mehr spürte und sein Geist sich im endlosen Wurzelwerk Heds verästelte.
Er mußte stehenbleiben, weil ihm der Atem stockte. Die Gestalt am Fenster bewegte sich. Das Licht verdunkelnd, starrte sie in die Nacht hinaus: groß, breitschultrig, gesichtslos. Abrupt drehte sie sich um, eilte an den Fenstern der Stube vorbei. Die Türen von Akren flogen krachend auf; ein Hund bellte einmal.
Morgon hörte Schritte. Sie durchquerten den Hof und blieben vor dem schrägen Schatten des Daches stehen.
»Morgon?« Fragend hing der Name in der stillen Luft. Dann wurde aus der Frage ein Ruf, der sämtliche Hunde weckte, als sein Echo über die Felder flog. »Morgon!«
Eliard war bei ihm, noch ehe er eine Bewegung machen konnte. Er hatte nur einen flüchtigen Eindruck von buttergelbem Haar, muskelbepackten Schultern und einem Gesicht, das im Mondlicht eine frappante Ähnlichkeit mit dem ihres Vaters hatte. Dann umschlang Eliard ihn mit beiden Armen und drückte ihm die Luft ab, während er mit den Fäusten hart auf Morgons Schultern schlug.
»Du hast dir Zeit gelassen«, sagte er.
Er weinte. Morgon wollte sprechen, doch seine Kehle war zu trocken; er senkte seine brennenden Augen an Eliards massige Schulter.
»Du Bär«, flüsterte er. »Willst du dich wohl beruhigen?«
Eliard schob ihn von sich weg, begann, ihn zu schütteln.
»Ich hab’ deinen Geist in mir gespürt, so wie ich ihn in meinen Träumen spürte, als du in jenem Berg gefangen warst.« Tränen rannen ihm über das Gesicht. »Morgon, verzeih mir, verzeih mir —«
»Eliard.«
»Ich wußte, daß du in Nöten warst, aber ich habe nichts getan — ich wußte nicht, was ich tun sollte —, und dann bist du gestorben, und die Landherrschaft ging an mich über. Und jetzt bist du wieder da, und ich habe alles, was dir gehört. Morgon, ich schwöre es, wenn es einen Weg gäbe, würde ich mir die Landherrschaft aus der Seele reißen und sie dir zurückgeben.«
Morgons Hände schlössen sich in plötzlicher, grimmiger Umklammerung um seine Arme, und er brach ab.