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In tiefem Flug kreiste er über sie hinweg, eine mächtige Rabenkrähe, die mit bitterem Auge auf die unbeerdigten gefallenen Krieger aus Heureus Heer blickte. Nichts regte sich auf der Ebene. Nicht einmal Vögel oder kleine Aasfresser hatten sich im grimmig kalten Regen eingefunden. Überall auf der Ebene blitzten und glitzerten Waffen in der Dämmerung. Der Regen prasselte auf edelsteinbesetzte Schwerthefte nieder, auf Brustpanzer und Kettenhemden, auf Pferdeschädel und die Skelette von Menschen. Nichts sonst erspähte das Auge der Krähe, während sie langsam der verfallenen Stadt zustrebte; doch durch die einfachen Instinkte der Krähe hindurch spürte Morgon die schweigende, tödliche Warnung, die über der ganzen Ebene hing.

Langsam flog er an dem mächtigen Turm vorüber, der sich in schwindelnder Höhe in die Schwärze der Nacht hineinschraubte. Er entleerte seinen Geist von allen Gedanken, nahm nur den Duft der feuchten Erde wahr und den mühsamen, matten Rhythmus seines Flügelschlages. Er machte erst Rast, als er die Ebene und die Südgrenze von Ymris überflogen hatte und endlich die mitternächtlichen Feuer von Mathoms Heer sah, das am Fluß unweit der Handelsstraße lag. Dort ging er zur Erde nieder und suchte Zuflucht unter den mächtigen, kahlen Eichen, um bis zum Morgen zu rasten.

Der frühe Morgen überzog die Erde mit klirrender Kälte. Er fühlte es, als er die Gestalt wechselte; sein Atem gefror vor ihm zu einem kleinen, erschreckten Wölkchen. Fröstelnd folgte er dem Geruch von Holzrauch und heißem Wein zu den Feuern am Fluß. Tote Krieger von An standen Wache. Sie schienen etwas von An in ihm zu erkennen. Sie musterten ihn mit einem weißen, augenlosen Grinsen und ließen ihn ungehindert passieren.

Er fand Aloil am Feuer vor dem Zelt des Königs, wo er sich mit Talies unterhielt. Lautlos gesellte er sich zu den Zauberern und blieb an ihrer Seite stehen, sich am Feuer zu wärmen. Durch das kahle Geäst der Bäume hindurch sah er andere Feuer, sah Männer, die aus den Zelten kamen und stampfend das Blut in ihren Adern in Bewegung brachten. Pferde schnaubten die Kälte aus ihren Lungen, während sie rastlos an den Seilen zerrten, die sie hielten. Die Zelte, das Zaumzeug der Pferde, die Waffen und die Röcke der Männer zeigten alle die Kriegsfarben von Anuin: Blau und Violett, mit dem Schwarz des Schmerzes gesäumt. Die Geister der Toten trugen ihre eigenen alten Farben, wenn sie sich überhaupt die Mühe machten, sich mit der Erinnerung ihrer Körper zu bekleiden. Wie es ihnen beliebte, bewegten sie sich unter den Lebenden, doch die Lebenden, die sich inzwischen an vieles gewöhnt hatten, interessierten sich mehr für ihr Frühstück als für die Geister der Toten.

Morgon, dem endlich wieder warm geworden war, zog Aloils Aufmerksamkeit auf sich, als er begann, dem Gespräch der beiden Zauberer zu lauschen. Mitten im Satz brach Aloil ab und richtete seine blauen, brennenden Augen über das Feuer hinweg. Die grüblerische Nachdenklichkeit in seinen Augen verwandelte sich in Erstaunen.

»Morgon!«

»Ich suche Yrth«, sagte Morgon. »Astrin hat mir gesagt, daß er bei Euch ist.«

Talies, dessen schmale Augenbrauen hochgezogen waren, wollte etwas sagen. Dann aber trat er zum Zelt des Königs und öffnete die Klappe. Er rief etwas; Mathom kam auf seinen Ruf ins Freie.

»Er war eben noch hier«, erklärte Talies, und Morgon seufzte. »Er kann nicht weit sein. Wie, in Hels Namen, habt Ihr die Ebene der Winde überquert?«

»Bei Nacht. Ich war eine Rabenkrähe.« Seine Augen brachen den schwarzen, forschenden Blick des Königs von An.

Mathom riß sich seinen Umhang herunter und sagte verdrießlich: »Bei dieser Kälte gefrieren selbst die nackten Gebeine der Toten.« Er warf Morgon den Umhang um die Schultern. »Wo habt Ihr meine Tochter gelassen?«

»In Caerweddin. Sie schlief, als ich aufbrach. Sie wird mir folgen, wenn sie erwacht.«

»Über die Ebene der Winde? Allein? Ihr macht es einander nicht leicht.«

Er stocherte im Feuer herum, bis die Flammen nach den tiefhängenden Zweigen der Eiche züngelten.

Morgon zog den Umhang fester um sich und fragte: »War Yrth bei Euch? Wo ist er hin?«

»Ich weiß es nicht, ich dachte, er wäre hinausgegangen, um sich einen Becher heißen Weins zu holen. Dies ist nicht die rechte Jahreszeit für alte Männer. Warum? Ihr seht hier zwei große Zauberer vor Euch, die stehen Euch beide zu Diensten.« Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern warf einen fragenden Blick auf Aloil. »Ihr seid doch mit ihm verbunden. Wo ist er?«

Aloil starrte auf die brennenden Eichenscheite und schüttelte den Kopf.

»Vielleicht macht er ein Schläfchen. Sein Geist schweigt. Er ist schnell gereist.«

»Morgon, wie es scheint, auch«, warf Talies ein. »Warum ist Yrth nicht mit Euch gereist?«

Morgon, der darauf keine Antwort geben konnte, strich sich nur mit einer unbestimmten Bewegung durch das Haar. Er sah ein plötzliches Aufblitzen in den Krähenaugen.

»Zweifellos«, bemerkte Mathom, »hatte Yrth seine Gründe.

Ein Mann ohne Augen sieht wunderbare Dinge. Ihr habt in Caerweddin haltgemacht. Sind Astrin und seine Kriegsherren noch immer zerstritten?«

»Es ist möglich. Aber Astrin führt das gesamte Heer auf die Ebene der Winde.«

»Wann?« fragte Aloil. »Mir hat er davon nichts gesagt, und ich war noch vor drei Nächten mit ihm zusammen.«

»Jetzt.« Und er fügte hinzu: »Ich habe ihn darum gebeten.«

Darauf folgte ein Schweigen. Eine der Wachen, eine goldene Rüstung über den nackten Gebeinen, ritt lautlos am Feuer vorbei. Mathoms Augen folgten dem Geist.

»Also. Was sieht ein Mann mit einem Auge?« Er beantwortete die Frage selbst, und in seiner Stimme schwang der Schock plötzlicher Erkenntnis. »Den Tod.«

»Dies ist kaum die rechte Zeit für Rätsel«, stellte Aloil ungeduldig fest. »Wenn das Gebiet zwischen Umber und Tor frei ist, wird er vier Tage brauchen, um die Ebene zu erreichen. Wenn nicht — Ihr solltet Euch besser darauf vorbereiten, nach Norden zu marschieren, um ihm notfalls zu Hilfe zu kommen. Er könnte das gesamte Heer verlieren, wenn er in eine Falle gerät, ehe er die Ebene erreicht. Er könnte Ymris verlieren. Wißt Ihr auch, was Ihr tut?« fragte er Morgon. »Ihr habt beeindruckende Kräfte gewonnen. Aber seid Ihr soweit, daß Ihr sie nach eigenem Ermessen gebrauchen könnt?«

Talies legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Ihr habt das Hirn eines Ymriskriegers«, stellte er fest, »voll von Muskelkraft und Poesie. Ich bin auch kein Rätselmeister, aber jahrhundertelanges Leben in den Drei Teilen hat mich ein wenig Geistesschärfe gelehrt. Wollt Ihr endlich hören, was der Sternenträger sagt? Er zieht die Streitkräfte des Reiches auf der Ebene der Winde zusammen, und er hat nicht die Absicht, die Schlacht allein zu schlagen. Auf der Ebene der Winde! Astrin hat es gesehen. Yrth hat es gesehen. Das letzte Schlachtfeld.« Schweigend starrte Aloil ihn an. Ein Schimmer schwacher Hoffnung breitete sich widerstrebend auf seinem Gesicht aus.

»Der Erhabene!« Er richtete seinen Blick wieder auf Morgon.

»Ihr glaubt, daß er auf der Ebene der Winde ist?«

»Ich glaube«, entgegnete Morgon leise, »daß wir, wenn wir ihn nicht bald finden, ganz gleich, wo er ist, alle des Todes sein werden. Ich habe ein Rätsel zuviel gelöst.« Er schüttelte den Kopf, als beide Zauberer zugleich zu sprechen anfingen. »Kommt auf die Ebene der Winde. Dort will ich Euch alle Antworten geben, die ich weiß. Dorthin hätte ich gleich gehen sollen, aber ich dachte, ich könnte vielleicht —« Er brach ab.

Mathom vollendete den Satz für ihn.

»Ihr dachtet, Yrth wäre hier. Der Harfner von Lungold.«

Ein rauher, trockener Laut, wie das Lachen einer Krähe, kam über seine Lippen. Doch er starrte ins Feuer, als sähe er zu, wie die Flammen einen Traum zu Ende woben. Mit einer heftigen Bewegung wandte er sich dann ab, doch Morgon sah seine Augen. Sie waren schwarz und ausdruckslos wie die Augen seiner Toten, die von der Wahrheit bis auf die Knochen ausgehöhlt waren.