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Im Zwielicht stand Morgon am Rande der Ebene der Winde unter den Bäumen und, wartete, während die Nacht langsam die verödete Stadt und das hohe, wispernde Gras in sich aufsog. Seit Stunden schon stand er hier, unbewegt, als hätte er Wurzeln geschlagen und wäre, ohne es selbst zu merken, zu einer kahlen, windgebeugten Eiche geworden. Der Himmel goß sternenloses Schwarz über der Welt aus, bis selbst für ihn, der im Dunkeln sehen konnte, die Edelsteinfarben des Turms von Finsternis durchdrungen zu sein schienen. Erst da rührte er sich, wurde sich wieder seines Körpers bewußt. Als er einen letzten Schritt auf den Turm zuging, teilten sich unerwartet die Wolken. Ein einziger Stern trieb durch die unergründliche Schwärze hinter ihnen.

Er stand am Fuß der Treppe und blickte aufwärts wie damals, als er an einem regnerischen Herbstnachmittag zwei Jahre zuvor den Turm das erste Mal erblickt hatte. Damals, fiel ihm jetzt ein, hatte er sich abgewandt, ohne Neugier zu spüren, ohne einen Drang, die endlosen Stufen hinaufzusteigen. Die Treppe war aus Gold, und die Legende sagte, daß sie sich vom Boden der Erde bis in alle Ewigkeit aufwärts wand.

Er senkte den Kopf, als kämpfte er gegen einen scharfen Wind an, und begann den Anstieg. Die Wände um ihn herum leuchteten in dem samtenen Schwarz, das zwischen den Sternen hing. Die goldenen Stufen wanden sich, in sanfter Steigung aufwärts führend, um das Herz des Turmes. Als er die Runde das erste Mal beendet hatte und die zweite begann, wich das Schwarz einem satten Rot. Die Winde, gewahrte er, sangen nicht mehr mit den dünnen, zornigen Stimmen des Tages; ihre Stimmen waren kraftvoll, sehnig. Die Stufen unter seinen Füßen schienen aus Elfenbein gehauen.

Er gewahrte, daß sich die Stimmen der Winde wiederum wandelten, als er die dritte Rundung erreichte. Töne schwangen in ihnen, zu denen er in der nördlichen Einöde auf seiner Harfe gespielt hatte, und seine Hände verlangten danach, ihren Gesang zu begleiten. Doch die Klänge der Harfe würden den Tod bringen, deshalb hielt er seine Hände still. Im vierten Ring schienen die Mauern aus massivem Gold und die Stufen aus Sternenfeuer gemeißelt. Endlos wanden sie sich aufwärts; die Ebene, die zerstörte Stadt entfernten sich weiter und weiter von ihm. Die Winde wurden kälter, während er stieg. Als er den neunten Ring erreichte, fragte er sich, ob er einen Berg erklomm. Der Gesang der Winde, die Stufen, die Wände um ihn herum waren klar wie, geschmolzener Schnee. Die Spiralen wurden enger und enger, und er glaubte, er müßte sich in der Nähe der Spitze befinden. Doch als er die nächste Windung erreichte, wurde er in gespenstische Finsternis gestürzt, als wären die Stufen aus Nachtwind geformt. Die Finsternis schien endlos, doch als er sie endlich hinter sich ließ, stand der Mond genau an der gleichen Stelle, wo er ihn zuletzt gesehen hatte. Weiter stieg er aufwärts. Die Wände schimmerten in einem wunderschönen Morgengrau; die Stufen glänzten zartrosa. Die Winde waren schneidend, erbarmungslos und tödlich. Sie rissen an ihm, bis seine eigene Gestalt zu zerfallen begann. Er stieg weiter, halb Mensch, halb Wind, und die Farben um ihn herum wandelten sich wieder und wieder, bis ihm klarwurde, wie anderen vor ihm klargeworden war, daß er bis in alle Ewigkeit durch ihr wechselndes Spiel wandern konnte.

Er blieb stehen. Die Stadt lag jetzt so tief unten, daß er sie in der Dunkelheit nicht mehr sehen konnte. Als er aufblickte, war ihm die Spitze des Turmes sehr nahe. Doch so nahe war sie, so schien es ihm, schon seit Stunden. Er fragte sich, ob er durch einen Traum wanderte, der seit Tausenden von Jahren inmitten dieser verödeten Mauern gestanden hatte. Dann erkannte er, daß es kein Traum war, sondern ein Trugbild, ein uraltes Rätsel, das an den Geist eines lebendigen Wesens geknüpft war, und daß er die Lösung dieses Rätsels ständig bei sich getragen hatte.

Leise sagte er: »Der Tod.«

Kap. 15

Hoch standen die Mauern um ihn, umschlossen ihn. Zwölf Fenster öffneten sich in mitternachtsblauem Stein den rastlosen, ewig klagenden Winden. Er fühlte eine Berührung und fuhr herum, vom Schrecken in seine natürliche Gestalt zurückgeworfen.

Der Erhabene stand vor ihm. Er hatte die zerschundenen Hände des Zauberers und das edle, von Alter und Weisheit geschliffene Gesicht des Harfners. Doch seine Augen waren weder die des Harfners noch die des Zauberers. Es waren die Augen des Falken, wild, offen, von beängstigender Kraft. Sie bannten Morgon zur Reglosigkeit. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er keinen Mut für Fragen; sein Mund war so trocken, daß er nicht sprechen konnte.

»Ich mußte Euch finden«, flüsterte er heiser in das unerschöpfliche Schweigen des Erhabenen hinein. »Ich muß begreifen.«

»Du begreifst noch immer nicht.«

Die Stimme klang von Winden umtost. Dann aber verschloß der Erhabene seine ehrfurchtgebietende Macht in seinem Inneren und wurde zum ruhigen, gelassenen Harfner, der Morgon vertraut war und dem er Fragen stellen konnte. Der Augenblick der Verwandlung lahmte von neuem Morgons Zunge; er löste ein Chaos widerstreitender Empfindungen aus. Morgon bemühte sich, sie in seine Gewalt zu bekommen. Doch als der Erhabene die Sterne an seiner Seite und in seinem Rücken unwiderruflich zum Leben erweckte, hob er die Hände und hielt die Arme des Harfners fest.

»Warum?«

Wieder legten ihn die Augen des Falken in Bann; er konnte den Blick nicht von ihm wenden. Als läse er die Erinnerungen in der Tiefe der dunklen Augen, sah er den Ablauf des geheimen, sich über Jahrtausende erstreckenden Kampfes, den der Erhabene bald mit den Erdherren, bald mit Ghisteslohm, bald mit ihm, Morgon selbst, ausgefochten hatte. Ein endloses Gespinst war er, aus Rätseln gewirkt. Manche Fäden waren so alt wie die Zeit, andere waren mit einem Schritt in die stille Kammer des Zauberers, mit dem Flug eines Schattens über das Antlitz des Sternenträgers gesponnen. Morgons Finger gruben sich tiefer, fühlten Knochen.

Ein Erdherr trat allein aus den Schatten eines grausamen, unbeendigten Krieges — hielt sich Tausende von Jahren verborgen, bald ein Blatt auf sattem, modrigem Waldboden, bald ein Lichtstrahl auf der Rinde einer Fichte. Tausend Jahre lang nahm er dann das Gesicht eines Zauberers an und wiederum tausend Jahre das stille, verschlossene Gesicht eines Harfners, der aus unergründlichen Augen auf die Mißgestalt der Macht blickte.

»Warum?« flüsterte Morgon wieder und sah sich selbst, wie er in Hed auf dem Pier saß und die Saiten einer Harfe zupfte, die er nicht spielen konnte. Und da fiel plötzlich der Schatten des Erhabenen über ihn. Der Meereswind oder die Hand des Erhabenen entblößten die Sterne an seinem Haaransatz. Der Harfner sah sie, eine Verheißung aus einer Vergangenheit, die so alt war, daß sie seinen Namen verschüttet hatte. Er konnte nicht sprechen; er wob sein Schweigen in Rätsel.

»Aber warum?« Tränen oder Schweiß brannten in seinen Augen. Er wischte die Nässe fort. Und wieder klammerten sich seine Hände um den Arm des Erhabenen, als wollte er ihn in dieser seiner Gestalt festhalten. »Ihr hättet Ghisteslohm mit einem Gedanken töten können. Statt dessen habt Ihr ihm gedient. Ihr! Ihr habt mich ihm ausgeliefert. Wart Ihr so lange sein Harfner, daß Ihr Euren eigenen Namen vergessen hattet?«

Der Erhabene bewegte sich endlich. Jetzt fühlte Morgon seine eigenen Arme in unerbittlicher Umklammerung gehalten.

»Denk nach! Du bist der Rätselmeister.«

»Ich habe nur den Kampf ausgetragen, zu dem Ihr mich herausgefordert habt. Aber ich wußte nicht, warum.«

»Denk nach! Ich fand dich in Hed, unschuldig, unwissend, deiner eigenen Bestimmung nicht gewahr. Du konntest nicht einmal Harfe spielen. Wen gab es in diesem Reich, der deine Augen der Macht hätte öffnen können?«