»Die Zauberer«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ihr hättet die Zerstörung von Lungold verhindern können. Ihr wart dort. Die Zauberer hätten in Freiheit überleben und mich auf meine Aufgabe, welcher Art auch immer sie sein mag, vorbereiten können.«
»Nein! Hätte ich damals meine Macht eingesetzt, diesen Kampf zu verhindern, so hätte ich viel zu früh den Kampf mit den Erdherren aufnehmen müssen. Ich wäre nicht bereit gewesen, und sie hätten mich vernichtet. Denk an ihre Gesichter! Führ sie dir vor Augen. Die Gesichter von Erdherren, die du im Erlenstern-Berg gesehen hast. Ich bin einer von ihnen. Die Kinder, die sie einst liebten, wurden unter dem Berg Isig eingemauert. Wie hättest du, in all deiner Unschuld und Arglosigkeit, sie verstehen können? Wie hättest du ihre Gier und ihre Gesetzlosigkeit begreifen können? Wen gab es im Reich, der dich dieses Verstehen hätte lehren können? Du wolltest die Möglichkeit der Wahl. Ich gab sie dir. Du hättest dir jene Gestalt der Macht zu eigen machen können, die du von Ghisteslohm lerntest — eine Macht ohne zügelnde Gesetze und ohne Liebe. Eine Macht der Zerstörung. Oder du hättest Finsternis in dich hineintrinken können, bis du ihr Wesen erkannt hättest und selbst zu Finsternis geworden wärst und dennoch mehr verlangt hättest. Als du dich aus Ghisteslohms Gewalt befreitest, warum jagtest du da mich und nicht ihn? Er nahm dir die Macht des Landrechts. Ich nahm dir dein Vertrauen und trat deine Liebe mit Füßen. Du verfolgtest den, der dir genommen hatte, was dir am teuersten war.«
Morgons Hände öffneten sich und ballten sich wieder zusammen. Sein Atem ging in keuchenden Stößen. Er hielt ihn an, ließ ihn sich soweit beruhigen, daß er eine letzte Frage stellen konnte.
»Was wollt Ihr von mir?«
»Morgon, denk nach!« Die gleichmäßige, vertraute Stimme war sehr sanft, beinahe unhörbar. »Du kannst das wilde Herz von Osterland werden, und du kannst Wind werden. Du hast meinen Sohn gesehen, tot und eingemauert im Berg Isig. Du nahmst aus seiner Hand die Sterne deiner eigenen Bestimmung entgegen. Und in all deiner Macht und deinem Zorn fandest du deinen Weg hierher, um mir meinen Namen zu geben. Du bist mein Landerbe.«
Morgon war wie vom Donner gerührt. Er umklammerte den Erhabenen, als wäre der Boden des Turms unter ihm plötzlich eingebrochen. Wie aus weiter Ferne hörte er seine eigene Stimme, die dünn und tonlos klang.
»Euer Erbe.«
»Du bist der Sternenträger, der Erbe, dessen Kommen die Toten von Isig voraussahen, auf den ich Jahrhunderte wider alle Hoffnung gewartet habe. Wo, glaubst du, hatte die Macht, die du über das Landrecht besitzt, ihren Ursprung?«
»Ich habe nicht — ich habe nicht nachgedacht.« Seine Stimme hatte sich zu einem Flüstern gesenkt. Plötzlich mußte er an Hed denken. »Ihr gebt mir — Ihr gebt mir Hed zurück.«
»Ich gebe dir das ganze Reich an dem Tag, an dem ich sterbe. Mir scheint, du liebst es, selbst die Geister seiner Toten und die dickschädligen Bauern und eisigen Winde —«
Er brach ab, als Morgon aufschluchzte. Tränen strömten Morgon aus den Augen, während Rätsel sich Faden um schimmernden Faden entwirrten. Die Umklammerung seiner Hände lockerte sich. Er sank dem Erhabenen zu Füßen und kauerte dort, den Kopf gesenkt, die von Narben gezeichneten Hände auf die Brust gedrückt. Er konnte nicht sprechen; er wußte nicht, welche Sprache von Licht und Dunkel der Falke, der sein Leben so erbarmungslos gestaltet hatte, hören würde. Wieder dachte er an Hed; es schien dort zu sein, wo sein Herz war — direkt unter seinen Händen.
Dann kniete der Erhabene vor ihm nieder und umschloß sein Gesicht mit beiden Händen. Die Augen waren die des Harfners, nachtdunkel, aber nicht mehr still und verschlossen, sondern voller Schmerz.
»Morgon«, flüsterte er. »Ich wünschte, du wärst nicht einer gewesen, den ich so innig liebte.«
Er legte seine Arme um Morgon und hielt ihn so fest, wie der Falke ihn gehalten hatte. Er umgab Morgon mit seiner Stille, bis Morgon das Gefühl hatte, daß der Turm und der gestirnte Himmel nicht aus Blut und Stein und Luft geschaffen waren, sondern aus der Stille und dem Schweigen des Harfners. Er weinte noch immer lautlos, wagte nicht, den Harfner anzurühren, aus Angst, er könnte wiederum die Gestalt wechseln. Etwas Schweres, Drückendes wie tiefer Kummer stieg in seiner Brust auf und quoll in seine Kehle, aber es war nicht Kummer.
»Was geschah mit Eurem Sohn?« fragte er den Erhabenen in dem Bewußtsein, seinen Schmerz wenigstens verstehen zu können.
»Er wurde im Krieg vernichtet. Die Macht wurde ihm entrissen. Er konnte nicht mehr leben. Er gab dir das gestirnte Schwert.«
»Und Ihr — Ihr wart seitdem allein. Ohne Erben. Besaßt nichts als eine Verheißung.«
»Ja. Ich habe Jahrtausende im verborgenen gelebt und hatte keine andere Hoffnung als eine Verheißung. Den Traum eines toten Kindes. Und dann kamst du. Morgon, ich habe alles getan, was ich tun mußte, um dich am Leben zu erhalten. Alles! Du warst meine einzige Hoffnung.«
»Ihr gabt mir selbst die Einöden. Ich liebte sie. Und die Nebel von Heran, die Vesta, das Hinterland. Ich bekam Angst, als mir bewußt wurde, wie sehr ich das alles liebe. Zu jedem Ding und jedem Wesen fühlte ich mich hingezogen, und ich kam nicht an gegen mein Verlangen —« Der Schmerz durchbohrte seine Brust wie eine Klinge. Er holte keuchend Atem. »Alles, was ich von Euch wollte, war die Wahrheit. Ich wußte nicht — ich wußte nicht, daß Ihr mir alles geben würdet, was ich je geliebt habe.«
Er konnte nicht mehr sprechen. Schluchzen schüttelte ihn, bis er nicht mehr wußte, ob er seine eigene Gestalt aushaken konnte. Doch der Erhabene hielt ihn in ihr fest, beschwichtigte ihn mit seinen Händen und mit seiner Stimme, bis Morgon ruhig wurde. Er konnte noch immer nicht sprechen; er lauschte den Winden, die wispernd um den Turm tanzten, dem gelegentlichen Klatschen von Regen und Steinen. Sein Gesicht lag an der Schulter des Erhabenen. Er war ruhig, rastete in der Stille des Erhabenen.
Als er später wieder sprach, war seine Stimme heiser und müde, aber auch ruhiger.
»Ich habe es nie geahnt. Ihr habt mich nie so weit über meinen Zorn hinausblicken lassen.«
»Ich wagte es nicht, dich zuviel sehen zu lassen. Dein Leben war in so großer Gefahr, und du warst mir so kostbar. Ich hielt dich mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung standen, am Leben, bediente mich dazu meiner selbst, deines Unwissens, selbst deines Hasses. Ich wußte nicht, ob du mir je würdest vergeben können, doch alle Hoffnungen des Reiches ruhten in dir, und ich brauchte dich mächtig, verwirrt, immer auf der Suche nach mir.«
»Ich — ich sagte zu Rendel, wenn ich aus der Einöde käme, um mit Euch einen Rätselkampf auszutragen, dann würde ich verlieren.«
»Nein. In Herun hast du die Wahrheit aus mir herausgelockt. Da verlor ich gegen dich. Ich konnte alles von dir ertragen, nur nicht dein Zartgefühl.« Seine Hand strich über Morgons Haar und senkte sich, ihn wieder festzuhalten. »Du und die Morgol, ihr habt verhindert, daß mein Herz sich in Stein verwandelte. Ich war gezwungen, alles, was ich ihr je gesagt hatte, zur Lüge werden zu lassen. Und du hast es in Wahrheit zurückverwandelt. So hochherzig warst du einem gegenüber, den du haßtest.«
»Alles, was ich begehrte, selbst wenn ich Euch am tiefsten haßte, war irgendeine armselige, kahle, ausgedörrte Entschuldigung, Euch lieben zu können. Aber Ihr habt mir nur Rätsel gegeben... Als ich glaubte, Ghisteslohm hätte Euch getötet, trauerte ich, ohne zu wissen, warum. Als ich in den nördlichen Einöden war und zum Gesang der Winde auf meiner Harfe spielte, zu müde selbst, um zu denken, da habt Ihr mich durch Eure Anziehungskraft wieder zurückgeholt. Ihr gabt mir einen Grund zu leben.«
Seine Hände hatten sich langsam geöffnet. Er hob die eine beinahe zaghaft zur Schulter des Erhabenen und neigte sich ein wenig rückwärts. Etwas von seiner eigenen tiefen Ermattung zeigte sich in den Augen des Erhabenen und auch die unerschöpfliche, schreckliche Geduld, die ihn so lange allein und unerkannt am Leben erhalten hatte, während er in der Welt der Menschen von jenen seiner eigenen Art unerbittlich gejagt worden war.