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Der Erhabene hatte ihm aus seinem Geist nicht mehr gegeben als die Erkenntnis des Landes Ymris; die gewaltigen Kräfte, die er in den Augen des Falken erblickt und gefürchtet hatte, waren noch immer gefesselt.

Es war der Morgen irgendeines Tages, und Rendel war an seiner Seite. Er war überrascht.

»Wie bist du hier heraufgekommen?«

»Ich bin geflogen.«

Die Antwort war so einfach, daß sie ihm einen Moment lang nichts sagte.

»Ich auch.«

»Du bist die Stufen hinaufgestiegen. Ich bin auf die Spitze geflogen.«

Sein Gesicht zeigte solche Entgeisterung, daß sie lächelte.

»Morgon, der Erhabene gestattete mir, hereinzukommen. Sonst wäre ich die ganze Nacht krächzend um den Turm herumgeflattert.«

Er nickte nur und nahm ihre Hand in die seine. Er spürte, daß sie sehr müde war, und ihr Lächeln erlosch rasch. Etwas Beunruhigendes blieb in ihren Augen zurück.

Der Erhabene stand an einem der Fenster. Im blauschwarzen Stein schimmerte der Widerschein des ersten Lichts. Vor dem grauen Himmel wirkte das Gesicht des Harfners abgespannt. Die Haut spannte sich straff und farblos über seine Knochen. Doch die Augen waren die Yrths, lichterfüllt, voller Geheimnis. Lange betrachtete Morgon ihn, ohne sich zu regen, noch immer eingehüllt in seinen Frieden, bis das vertraute Gesicht mit dem schwachen Silberlicht des Morgens zu verschmelzen schien.

Der Erhabene drehte sich schließlich um und sah ihn an. Ohne ein Wort oder eine Bewegung holte er Morgon einfach mit seinem stummen Wunsch zu sich. Morgon ließ Rendels Hand los und stand steifgliedrig auf. Er durchquerte das Gemach. Der Erhabene legte eine Hand auf seine Schulter.

»Ich konnte nicht alles aufnehmen«, sagte Morgon.

»Morgon, die brachliegenden Kräfte, die du gespürt hast, stecken in den Toten der Erdherren; in jenen, die, an meiner Seite kämpfend, auf der Ebene fielen. Diese Kräfte werden da sein, wenn du sie brauchst.«

Tief unter der Hülle des Friedens erhob sich etwas in Morgon bei den Worten des Erhabenen und nahm Witterung auf wie ein blinder Jagdhund.

»Und die Harfe und das Schwert?« Er sprach ruhig. »Ich verstehe kaum die Kraft, die in ihnen steckt.«

»Sie wird sich dir von selbst entdecken. Schau!«

Unter tiefhängenden, schweren Wolken zog sich ein weißer Nebel von Vesta über die Ebene. Ungläubig starrte Morgon hinunter, lehnte dann sein Gesicht an den kühlen Stein.

»Wann sind sie eingetroffen?«

»Gestern abend.«

»Wo ist Astrins Heer?«

»Ein Teil davon wurde zwischen Tor und Umber eingeschlossen, aber die Vorhut kam durch und machte den Weg frei für die Vesta und die Wache der Morgol und die Bergleute Danans. Sie kommen hinter den Vesta.« Er las Morgons Gedanken, und seine Hand verkrampfte sich ein wenig. »Ich habe sie nicht herkommen lassen, damit sie kämpfen.«

»Warum dann?« flüsterte Morgon.

»Du wirst sie brauchen. Du und ich, wir müssen diesem Krieg ein schnelles Ende bereiten. Dazu wurdest du geboren.«

»Wie?«

Der Erhabene schwieg. Hinter seinem stillen, nach innen gekehrten Blick witterte Morgon eine tiefe Müdigkeit und eine unerschöpfliche Langmut, die ihm vertrauter war; die Langmut des Harfners, der wartete, bis Morgon verstand.

Schließlich sagte der Erhabene sehr behutsam: »Der Fürst von Hed und seine Bauern haben sich an der Südgrenze mit Mathoms Heer vereinigt. Wenn du sie am Leben erhalten willst, dann wirst du einen Weg finden.«

Morgon wirbelte herum, rannte durch die Kammer, lehnte sich zu einem Südfenster hinaus, als könnte er durch das Ästegewirr kahler Eichen hindurch eine wild entschlossene Truppe von Bauern mit Rechen, Hacken und Sensen sehen. Ein Schmerz wallte in seinem Herzen auf, der ihm Tränen in die Augen trieb.

»Er hat Hed verlassen. Eliard hat seine Bauern zu Kriegern gemacht und hat Hed verlassen. Was ist das? Das Ende der Welt?«

»Er kam, um für dich zu kämpfen. Und für sein Land.«

»Nein.« Er drehte sich um, die Hände geballt, aber nicht in Zorn. »Er kam, weil Ihr es wolltet. Deshalb ist die Morgol gekommen, deshalb ist Har gekommen. Ihr habt sie hierher gezogen, so wie Ihr mich immer wieder an Euch zieht mit einem Geheimnis, das Euch umgibt wie ein Windhauch. Was ist es? Was verschweigt Ihr mir?«

»Ich habe dir meinen Namen gegeben.«

Morgon schwieg. Es begann sachte zu schneien, in schweren, vom Wind getriebenen Flocken. Sie setzten sich auf seine Hände, brannten, ehe sie sich auflösten. Er schauderte plötzlich und merkte, daß nichts mehr in ihm danach verlangte, Fragen zu stellen.

Rendel hatte sich von ihnen beiden abgewandt. Sie wirkte seltsam isoliert in der Mitte des kleinen Raums. Morgon ging zu ihr. Sie hob den Kopf, als er kam, doch ihr Gesicht wandte sich von ihm ab dem Erhabenen zu.

Er kam zu ihr, als hätte sie ihn auf die gleiche Art angezogen, wie er Morgon anzog. Er strich ihr eine vom Wind zerzauste Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Rendel, es ist Zeit, daß Ihr fortgeht.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein.« Ihre Stimme war sehr ruhig. »Ich bin zur Hälfte eine Tochter der Erdherren. Ihr sollt wenigstens eine Eurer Art im Kampf an der Seite haben. Ich werde Euch und Morgon nicht verlassen.«

»Ihr steht im Auge der Gefahr.«

»Es war meine eigene Entscheidung, hierher zu kommen. Um bei denen zu sein, die ich liebe.«

Er war stumm. Einen Moment lang war er nur der Harfner, ein in sich gekehrter, einsamer Mann.

»Euch«, sagte er leise, »habe ich nie erwartet. So mächtig, so schön, so voller Liebe. Ihr seid wie eines unserer Kinder, die vor unserem Krieg in die Macht hineinwuchsen.« Er hob ihre Hand und küßte sie, öffnete sie dann, um die kleine Narbe in ihrer Handfläche zu enthüllen. »Es gibt zwölf Winde«, sagte er zu Morgon. »Gefesselt, gelenkt sind sie genauere und schrecklichere Waffen als jede andere im ganzen Reich. Ungefesselt könnten sie das Reich zerstören. Sie sind außerdem meine Augen und Ohren, denn sie kennen alle Dinge, hören alle Worte und Bewegungen, und sie sind überall. Dieser blitzende Stein, den Rendel in ihrer Hand hielt, war von den Winden geschliffen. Ich tat das eines Tages, als ich mit ihnen spielte, lange ehe ich sie in unserem Krieg einsetzte. Die Erinnerung daran spiegelte sich in dem Stein.«

»Warum sagt ihr mir das?« Seine Stimme schwankte ein wenig. »Ich kann die Winde nicht beherrschen.«

»Nein. Noch nicht. Es soll dich nicht kümmern.« Er legte seinen Arm um Morgons Schultern und zog ihn in seine Stille hinein. »Horch! In dieser Kammer kannst du die Stimmen aller Winde des Reiches hören. Lausche meinem Geist.«

Morgon öffnete seinen Geist der Stille des Erhabenen. Das unbestimmte, abgerissene Murmeln außerhalb der Mauern wurde durch den Geist des Erhabenen gefiltert, in all die reinen, schönen Töne seiner gestirnten Harfe gebrochen. Die Klänge erfüllten Morgons Herz mit sanften, milden Sommerwinden und mit den brausenden, wilden Winden, die er liebte. Der volle, satte Rhythmus war im Einklang mit dem Pulsen seines Bluts. Erwünschte, er könnte die Harfenklänge und den Harfper für immer in diesem Augenblick festhalten.

Die Harfenklänge verstummten. Er konnte nicht sprechen. Er wünschte, der Erhabene würde sich nicht rühren. Doch der Arm auf seiner Schulter hob sich. Der Erhabene sah ihn an.

»Jetzt«, sagte er, »müssen wir uns zur Schlacht rüsten. Ich möchte, daß du Heureu Ymris findest. Diesmal warne ich dich: Wenn du seinen Geist anrührst, schnappt eine Falle zu, die dir gestellt wurde. Die Erdherren werden dann wissen, wo du bist und daß der Erhabene bei dir ist. Du wirst wieder Krieg auf der Ebene der Winde entfachen. Sie besitzen kaum eigene geistige Kräfte — die halte ich gefesselt; aber sie beherrschen Ghisteslohms Geist, und es kann sein, daß sie sich seiner Zauberkräfte bedienen, um dir etwas anzutun. Ich werde jeden Bann, den er legt, brechen.«