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Morgon drehte den Kopf und sah Rendel an; ihre Augen sagten ihm, was er schon wußte — daß nichts, was er sagen oder tun würde, sie veranlassen konnte, ihn und den Erhabenen zu verlassen. In stummem Einverständnis, das ihr und dem Erhabenen galt, neigte er den Kopf. Dann ließ er seinen Geist aus der Stille hinausfliegen und hinuntersteigen in die feuchte Erde auf der Ebene. Er berührte einen Grashalm und nahm ihn von den feinen Haarwurzeln bis zu seiner Spitze in sich auf. Und da er, ein winziger Bestandteil des Landrechts von Ymris, auch in Heureus Geist verwurzelt war, wurde er Morgons Verbindung mit dem König von Ymris.

Er spürte einen unaufhörlich nagenden Schmerz, einen Aufruhr ohnmächtigen Zorns und wütender Verzweiflung. Er hörte das ferne, hohltönende Branden des Meeres. Er hatte jeden Fels und Stein entlang der ganzen Küste gelernt, und er erkannte die Stelle an der Küste von Meremont. Er roch feuchtes Holz und nasse Asche. Der König lag in einer halb abgebrannten Fischerhütte am Strand, nicht mehr als ein oder zwei Meilen von der Ebene der Winde entfernt.

Morgon wollte aufblicken und sprechen. Da flutete die See über ihn hinweg und überschwemmte alle seine Gedanken. Durch einen langen, finsteren Gang schien er direkt in Ghisteslohms fremdartige, goldgesprenkelte Augen zu blicken.

Er spürte den Blitz verwunderten Erkennens, der in dem gefesselten Geist emporzuckte. Dann packte ihn ein fremder Geist, und die Augen des Zauberers stachen brennend in ihn hinein, um ihn auszuleuchten. Die Fesseln, die sich um seinen Geist gelegt hatten, wurden zerrissen. Morgon taumelte. Der Erhabene umfaßte seine Schulter und hielt ihn fest. Er wollte etwas sagen, doch die Falkenaugen ließen ihn nicht.

Er wartete, während sein Herz wie rasend klopfte. Rendel, wartend wie er selbst, schien wieder fern und unzugänglich, als gehörte sie einem anderen Teil der Welt an. Ihn verlangte verzweifelt danach, zu sprechen, das Schweigen zu brechen, das sie alle in Reglosigkeit gefangenhielt, als wären sie aus Stein. Doch er schien gebannt, ohnmächtig, dem Willen des Erhabenen ausgeliefert.

Bewegung ließ die Luft erzittern; dann noch eine Bewegung. Die dunkle Frau von exquisiter Schönheit, die Morgon als Eriel kannte, die Tochter der Erdherren, stand vor ihnen. Und neben ihr stand Ghisteslohm.

Staunen und Ehrfurcht spiegelten sich in den Augen der Frau, als sie den Harfner erkannte. Der Zauberer, der dem Erhabenen, den er so lange gesucht hatte, endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, hätte beinahe den Bann zerbrochen, der seinen Geist gefangenhielt. Ein feines Lächeln blitzte in den Falkenaugen auf, eisig wie das Herz der nördlichen Einöden.

»Selbst der Tod, Meister Ohm, ist ein Rätsel«, sagte er.

Schwarze Wut verfinsterte Ghisteslohms Augen. Eine gewaltige Kraft schleuderte Morgon quer durch die Turmkammer. Er schlug gegen die dunkle Wand; sie gab unter dem Aufprall seines Körpers nach, und er stürzte in einen phosphoreszierenden, schwarzblauen Nebel des Trugs. Er hörte Rendel schreien, und dann sah er eine Krähe auffliegen. Er versuchte, sie zu fassen zu bekommen, doch sie flatterte ihm aus den Händen. Ein fremder Geist umklammerte den seinen. Augenblicklich wurden die Fesseln zerrissen. Ein Kraftstoß, den er nicht spürte, schoß blitzend auf ihn zu und wurde aufgesogen. Er sah wieder Ghisteslohms Gesicht, verschwommen im gespenstischen Licht. Er spürte eine grobe Hand an seiner Seite und schrie auf, obwohl er nicht wußte, was ihm entrissen worden war. Dann wälzte er sich auf den Rücken und erblickte das gestirnte Schwert in Ghisteslohms Händen. Endlos schwang es aufwärts, sammelte Licht und Schatten in sich, bis die Sterne hoch über Morgon Feuer und Finsternis sprühten. Er konnte sich nicht bewegen; die Sterne hielten seine Augen fest und seine Gedanken. Er sah, wie sie den höchsten Punkt ihres Bogenlaufs erreichten und stillstanden, ehe sie sich im rasenden Abwärtsschwung verwischten. Und da sah er plötzlich wieder den Harfner, der so ruhig wie damals im Königssaal von Anuin unter den fallenden Sternen stand.

Ein Schrei brach aus Morgon heraus. Mit entsetzlicher Geschwindigkeit sauste das Schwert herunter und traf den Erhabenen. Es durchbohrte sein Herz und zersprang dann in Ghisteslohms Händen.

Morgon, der endlich frei war und sich wieder bewegen konnte, fing den Erhabenen auf, als er stürzte. Er konnte nicht atmen. Schmerz bohrte sich wie eine Schwertklinge in sein eigenes Herz. Der Erhabene umklammerte seine Arme. Seine Hände waren die verkrüppelten Hände des Harfners und die zerschundenen Hände des Zauberers. Er mühte sich ab, trotz der Anstrengung zu sprechen. Sein Gesicht wechselte unter Morgons Tränen immer wieder die Züge. Morgon zog ihn näher an sich heran. Er spürte, wie sich etwas in ihm aufstaute, das wie ein Wahnsinnsschrei von Schmerz und Wut war. Doch der Erhabene begann schon, sich aufzulösen. Mit einer Hand, die aus rotem Stein oder Feuer geformt zu sein schien, berührte er die Sterne auf Morgons Gesicht.

Er flüsterte Morgons Namen. Seine Hand glitt hinunter zu Morgons Herz.

»Befreie die Winde.«

Kap. 16

Ein Schrei, der kein Schrei war, sondern eine Windesstimme, löste sich aus Morgon. Der Erhabene wandelte sich unter seinen Händen zu Feuer und dann zu einer Erinnerung. Das Brüllen, das aus ihm hervorge-brochen war, raste in donnerndem Widerhall durch den Turm — ein gewaltiger, tiefer Ton, der unentwegt anschwoll, bis die Steine rundum zu beben begannen. Winde rüttelten am Turm. Im Chaos der wilden, wunderbaren Stimmen, die ihn umtob-ten, konnte Morgon seine eigene Stimme nicht ausmachen. Er griff nach seiner Harfe. Die Sterne auf ihr waren nacht-schwarz geworden. Er ließ seine Hand oder den messerschar-fen Hauch eines Windes über die Saiten gleiten, und sie zerris-sen. Als die tiefe Saite mit einem klagenden Ton riß, barsten Stein und Trugbild von Stein, die ihn umgaben, und stürzten zur Erde nieder.

Winde, die die Farben von Stein, Feuer, Gold und Nacht hatten, drehten sich kreiselnd um ihn und jagten davon. Der Turm brach mit donnerndem Brüllen zu einer riesigen steinernen Gruft zusammen. Morgon wurde ins hohe Gras geschleudert, wo er auf Händen und Knien liegenblieb. Weder die Kräfte Ghisteslohms noch die Eriels konnte er irgendwo ausmachen. Es war, als hätte der Erhabene sie in jenem letzten Augenblick für immer an seinen Tod gebunden. Schneeflocken wirbelten um ihn, schmolzen, sobald sie die Erde berührten. Der Himmel war totenbleich.

Das,Wissen um das Land, das er in sich trug, spaltete sich in seinem Geist in ein Gestöber von Fragmenten. Er hörte die Stille der Graswurzeln unter seinen Händen; aus den starren Augen eines Toten von An, der am Rande der Ebene stand, blickte er auf die Trümmer des Turms der Winde. Ein mächtiger Baum sank im Regen aus einem nassen Berghang im Hinterland langsam zur Seite; er spürte, wie seine Wurzeln sich stöhnend aus der Erde lösten, als er stürzte. Ein Trompeter in Astrins Heer hob sein goldblitzendes Instrument an den Mund. Die Empfindungen und Gedanken der Landherrscher verflochten sich in Morgons Geist, waren voller Schmerz und Angst, wenn auch die Landherrscher selbst nicht wußten, warum. Das ganze Reich schien sich dort im Gras unter seinen Händen zu formen, schien an ihm zu ziehen, bis sein Geist sich von den kalten, einsamen Einöden bis zum reichgeschmückten Hof von Anuin spannte. Er war Stein und Wasser, ein sterbendes Feld, ein Vogel, der gegen den Wind kämpfte, ein König, der verwundet und verzweifelt am Strand unterhalb der Ebene der Winde lag; er war in den Vesta, in den Geistern der Toten und tausend zart gesponnenen Geheimnissen, in scheuen Hexen und sprechenden Schweinen, in einsam emporragenden Türmen, für die er in seinem Geist Raum schaffen mußte.

Der Trompeter setzte sein Hörn an die Lippen und blies. Im selben Moment donnerte ein Großer Schrei aus den Mündern der Krieger von An über die Ebene. Die Geräusche, der Ansturm von Wissen und Erkenntnis, der tiefe Schmerz über den Verlust, den das Reich erlitten hatte, überwältigten Morgon plötzlich. Wieder schrie er auf, während er sich auf die Erde niederfallen ließ und das Gesicht im nassen Gras vergrub.