Kraftstöße fuhren durch ihn hindurch und erschütterten die Bindungen, die er mit der Erde geknüpft hatte. Er erkannte, daß der Tod des Erhabenen alle Kräfte der Erdherren freigesetzt hatte. Er spürte ihren Geist, der so alt und so wild war wie Feuer und Meer, schön und todbringend, darauf gerichtet, ihn zu vernichten. Er wußte nicht, wie er sie bekämpfen sollte. Ohne sich zu bewegen, sah er sie mit dem Auge seines Geistes, wie sie aus dem Meer emporstiegen und über die Ebene der Winde schwärmten, wogend wie eine Flutwelle in den Gestalten von Menschen und Tieren. Und ihr Geist eilte ihnen witternd voraus. Immer wieder drangen sie in ihn ein, entwurzelten Wissen in seinem Geist, zerrissen Bindungen, die zu seinem Erbe gehörten. Sein Wissen um Bäume in den Eichenwäldern, um Vesta, um Ackergäule in Hed, um die Bauern in Ruhn begann Funken um Funken zu verlöschen.
Er empfand es als eine andere Art von Verlust, schrecklich und bestürzend. Er versuchte, dagegen anzugehen, während er zusah, wie die Woge sich näher wälzte, doch es war nicht anders, als wollte er die Flut daran hindern, ihm Sandkörnchen aus den Händen zu spülen.
Astrins und Mathoms Heere stürmten von Norden nach Süden über die Ebene. Leuchtend wie sterbende Herbstblätter hoben sich ihre Kriegsfarben vom bleichen Winterhimmel ab. Sie würden alle vernichtet werden, selbst die Toten. Morgon wußte es. Kein lebendes Bewußtsein, keine Erinnerung von Toten konnte unter dem Ansturm der Macht überleben, die sich auch von seinen Kräften speiste. Mathom ritt an der Spitze seiner Krieger; in den Bäumen schickte sich Har an, die Vesta auf die Ebene hinauszuschicken. Danans Bergleute, flankiert von den Wachen der Morgol, setzten sich in Bewegung, um Astrins Heer zu folgen. Er wußte nicht, wie er ihnen helfen sollte. Dann sah er, daß im Südosten, am Rand der Ebene, Eliard und die Bauern von Hed, nur mit Hämmern und Äxten und grimmiger Entschlossenheit bewaffnet, auf die Ebene hinausmarschierten, um ihn zu retten.
Er hob den Kopf. Ein fremder Geist senkte sich über den seinen, und die Bilder, die er wahrgenommen hatte, verschwammen. Das ganze Reich schien sich zu verfinstern; Teile seines Lebens entglitten ihm. Er versuchte, sie festzuhalten, die Hände ins Gras gekrallt, während das schreckliche Gefühl ihn überkam, daß alle Hoffnung, die der Erhabene in ihn gesetzt hatte, umsonst gewesen war. Da öffnete sich in einem geheimen Winkel seines Geistes eine Tür. Er sah Tristan auf die Veranda von Akren hinaustreten. Sie fröstelte ein wenig im kalten Wind, und die Augen, die zum Festland blickten, waren dunkel und voller Furcht.
Mit der ganzen unerschütterlichen Hartnäckigkeit, die die kleine Insel ihm mitgeben konnte, schob er sich hoch, zuerst auf die Knie, dann auf die Füße. Ein Windstoß schlug ihm fauchend ins Gesicht; er konnte kaum das Gleichgewicht halten unter seinem wütenden Ansturm. Er stand mitten im Herzen des Chaos. Rund um ihn herum stürmten Lebendige und Tote auf der einen Seite, Erdherren auf der anderen, dem tödlichen Zusammenstoß entgegen; das Wissen um das Landrecht des Reiches wurde ihm Stück um Stück entrissen; er hatte die Winde befreit. Sie tobten brüllend über das Reich, sprachen von Wäldern, deren Bäume unter ihrer Gewalt zu knicken drohten, von zertrümmerten Dörfern und abgedeckten Dächern. Das Meer stieg, es würde Heureu töten, wenn er — Morgon — nicht handelte. Eliard würde sterben, wenn er ihn nicht zurückhalten konnte. Er versuchte, Eliards Geist zu erreichen, doch während er suchend über die Ebene schweifte, verfing er sich nur in einem Netz anderer Gedanken.
Wie eine Flutwelle, die Gras und Büsche entwurzelt, entrissen sie ihm Wissen und Macht. Es schien kein Entrinnen vor ihnen zu geben; kein Bild des Friedens wollte sich in seinem Geist formen, sie abzuwehren. Dann sah er vor sich etwas glitzern. Es war seine zerbrochene Harfe, die im Gras lag. Ihre Saiten, von den Winden gespielt, blitzten stumm.
Ein mächtiger, unverfälschter Zorn, der nicht sein eigener war, durchloderte ihn plötzlich und verbrannte alle Fesseln, die seinen Geist gefangenhielten, zu nichts. Danach war sein Geist so klar wie der Glanz der Sonne. Er fand Rendel neben sich, die ihn einen flüchtigen Moment lang mit ihrem Zorn befreit hatte, und er hätte vor ihr auf die Knie fallen mögen dafür, daß sie noch lebte, dafür, daß sie an seiner Seite war. In jenem Augenblick, den sie ihm geschenkt hatte, erkannte er, was er tun mußte.
Dann prallten die Kräfte des Reiches vor ihm aufeinander. Skelette von Toten, schimmernde Kettenhemden und blitzende Schilde von Lebenden, Vesta, so weiß wie der Schnee, der vom Himmel herabfiel, die Wachen der Morgol mit ihren schlanken Speeren aus Silber und Eschenholz trafen auf die Erdherren, die voll erbarmungsloser, unmenschlicher Macht waren.
Zum erstenmal hörte er den jammervollen Schrei einer Vesta im Tode, ein klagender Ruf nach ihren Gefährten. Er spürte, wie die Namen der Toten aus seinem Geist gelöscht wurden wie Kerzen vom Wind. Männer und Frauen kämpften mit Speeren und Schwertern, mit Pickeln und Äxten gegen einen Feind, der keinen Augenblick ein und dieselbe Gestalt beibehielt, sondern mit ständiger fließender Wandlung seiner äußeren Erscheinung den Gegner in Verzweiflung und Tod stürzte. Morgon fühlte, wie sie starben, Teile seiner selbst. Danans Bergleute brachen zusammen wie mächtige Bäume. Die Bauern von Hed, die sich einem Feind gegenübersahen, der alle ihre Vorstellungen sprengte, da nichts in der friedlichen Geschichte ihrer Insel sie je hatte ahnen lassen, daß es solche Wesen gab, schienen zu verwirrt, um sich auch nur zu verteidigen. Ihre Leben wurden Morgon wie in ihm verwurzelte Pflanzen entrissen. Die ganze Ebene schien wie ein brüllendes, sich aufbäumendes Tier, und ein Teil seiner selbst kämpfte ohne Hoffnung auf Überleben gegen den finsteren, hinterhältigen Feind, den man nicht fassen konnte und der den Tod des Reiches beschlossen hatte. In den kurzen Augenblicken der Schlacht spürte er den ersten der Landherrscher sterben.
Er fühlte den Kampf in Heureus Geist, als dieser, verwundet und hilflos, versuchte, den wütenden Aufruhr in seinem Land zu begreifen. Sein Körper war nicht kräftig genug für solche Qual. Er starb allein, in den Ohren das Tosen der Brandung und die Schreie der Sterbenden auf der Ebene der Winde. Morgon spürte, wie die Lebenskraft aus dem König in die Erde von Ymris zurückströmte. Und auf dem Schlachtfeld wurde Astrin, der um sein Leben kämpfte, plötzlich von einem überwältigenden Schmerz heimgesucht, und alle Landinstinkte erwachten in ihm.
Sein Schmerz ließ den von Morgon um den Erhabenen, um Heureu, um das Reich wieder aufleben, das seiner Hege anvertraut war und in ihm starb. Sein Geist öffnete sich mit einem klagenden Harfenton, der auch ein Ruf war — ein Ruf an einen Südwind, der heulend über das Hinterland fegte. Ton um Ton rief er die entfesselten Winde zur Ebene der Winde zurück.
Klirrend vor Kälte kamen sie aus den nördlichen Einöden zu ihm; regenschwer aus dem Hinterland; von Salz- und Schneeduft geschwängert vorn Meer; nach feuchter Erde riechend aus Hed. Sie rasten. Sie drückten das Gras von einem Ende der Ebene zum anderen zur Erde nieder. Sie schleuderten seinen Körper in die Luft und entwurzelten Eichen am Rande der Ebene. Sie beweinten die Finsternis seines Schmerzes, zerrissen die Luft mit ihrem schrillen, wimmernden Klagen. Sie stoben die Heere vor sich auseinander wie Spreu. Reiterlose Pferde jagten vor ihnen her. Tote zerschmolzen in Erinnerung; Schilde wirbelten wie Blätter durch die Luft; Männer und Frauen lagen auf der Erde und versuchten kriechend, den Winden zu entkommen. Selbst die Erdherren wurden in ihrem Ansturm aufgehalten; gleich, welche Gestalt sie annahmen, gegen die Winde konnten sie nichts ausrichten.