Morgons Geist war in Harfentöne gebrochen. Verbissen kämpfte er darum, sie in eine Ordnung zu zwingen. Der dröhnende Nordwind sandte seinen tiefen Ton durch ihn hindurch, und Morgon ließ ihn in seinem Geist anschwellen, bis dieser wie eine Harfensaite vibrierte. Da gab der Wind ihn schließlich frei. Er zog eine andere Stimme in sich hinein, die dünne, feurige Stimme eines Windes aus dem fernsten Hinterland. Mit einem süßen, schrecklichen Ton durchglühte sie seinen Geist. Er glühte mit ihr und nahm sie in sich auf. Ein dritter Wind, der über das Meer tobte, jagte ein wildes Lied durch ihn hindurch. Er sang mit ihm, wandelte die Stimme in ihm, in den Winden, in Sanftheit. Die stürmischen Wogen, die gegen die Küsten von Hed brandeten, legten sich langsam. Ein anderer Wind wob sein Lied durch seinen Geist. Er war aus der Winterstille des Isig-Passes gesponnen und den Harfenklängen, die noch immer in der Finsternis des Erlenstern-Bergs widerklangen. Er flocht die Stille und die Finsternis in sein eigenes Lied.
Der geistigen Kräfte der Erdherren war er kaum gewahr, während er um die Herrschaft der Winde rang. Die Macht der Winde erfüllte ihn, kämpfte mit ihm und schützte ihn doch auch. Kein Geist auf der Ebene hätte ihn anrühren können, durchdrungen wie er war von den Stürmen und Winden. Ein fernes Auge in seinem Geist war auf das Reich gerichtet, dem er verbunden war. Krieger flohen in die Grenzwälder. Sie mußten ihre Waffen zurücklassen. Nicht einmal die Verwundeten konnten sie mitnehmen. Bis nach Caithnard, Caerweddin und Hed war das Fauchen und Brüllen und Wimmern seines Kampfes mit den Winden zu hören. Die Zauberer hatten die Ebene verlassen; er spürte das Vergehen ihrer Kräfte, als sie Verwirrung und Angst in sich hineinließen. Das graue Licht der Abenddämmerung wob Schleier über die Ebene, und dann kam die Nacht, und er rang mit den kalten, zähen Winden der Dunkelheit, die mit Wolfsstimmen heulten.
Er legte die Winde in Fesseln und zwang ihnen seine Macht auf. Er hätte einen Ostwind auf den innersten Punkt der Steingruft neben sich loslassen können, um die Trümmer über die ganze Ebene zu verstreuen. Er hätte eine Schneeflocke von der Erde aufheben oder eine der gefallenen Wachen, die unter einer dünnen Schneedecke lagen, umdrehen können, um ihr Gesicht zu sehen.
Rund um die Ebene brannten die ganze Nacht Hunderte von Feuern; Männer und Frauen des Reiches warteten schlaflos im Schein der Flammen, während er mit den verrinnenden Stunden um die Entscheidung über ihr Schicksal rang. Sie versorgten ihre Verwundeten und fragten sich, ob sie den Übergang der Macht vom Erhabenen auf seinen Erben überleben würden.
Endlich kam der Morgen.
Wie ein einsames Auge starrte er durch weißen Nebel auf ihn herab. Er zog sich in sich selbst zurück, in den Händen die gefesselten Winde. Er war allein auf einer stillen Ebene. Die Erdherren hatten ihr Schlachtfeld ostwärts verlegt, zogen jetzt durch Ruhn. Einen Moment lang stand er reglos da und fragte sich, ob er eine einzige Nacht oder ein Jahrhundert von Nächten durchlebt hatte. Dann zog er seinen Geist von der Nacht ab und sandte ihn aus, den Weg der Erdherren zu erkunden.
Sie waren quer durch Ruhn geflohen. Städte und Bauernhöfe, Dörfer und Häuser von Edelleuten lagen in Trümmern; Felder, Wälder und Obstpflanzungen waren vernichtet. Menschen und Tiere, die in den Sog ihrer geistigen Kräfte gerieten, waren getötet worden. Während sein Geist über das verwüstete Land schweifte, rührte sich in ihm eine Harfenweise. Die Winde in seiner Hand erwachten bei den Klängen, erhoben sich in gefährlichem Zorn, rissen ihn aus seinem Körper, bis er halb Mensch, halb Wind war, ein Harfner, der auf einer Harfe ohne Saiten ein Todeslied spielte.
Da ließ er all die Kräfte aufstehen, die unter den herrlichen alten Städten überall in Ymris begraben lagen. Er hatte sie im Geist des Erhabenen gespürt, und jetzt wußte er endlich, warum die Erdherren um den Besitz ihrer alten Städte gekämpft hatten. Sie waren alle Gräber, zertrümmerte Denkmäler ihrer Toten. Jahrtausende hatten die Kräfte unter der Erde geschlafen. Doch wie die Geister der Toten von An konnten auch die Geister der toten Erdherren durch Erinnerung geweckt werden, und Morgon, dessen Geist tief unter die Steine drang, riß sie mit seinem Schmerz gewaltsam aus ihrem Schlaf. Er sah sie nicht. Doch auf der Ebene der Winde und auf der Ebene von Königsmund, in den Ruinenstädten von Ruhn und Ost-Umber schwoll eine Kraft, die über den steinernen Trümmern hing wie die unheimliche, bedrohlich knisternde Spannung vor dem ersten krachenden Donner eines Gewitters. Überall in Ymris war diese Spannung zu spüren. Keiner sprach; alle warteten.
Morgon wehte über die Ebene der Winde. Ein Heer von toten Erdherren folgte ihm, schwebte über Ymris hinweg, auf der Suche nach den lebenden Erdherren, um einen Krieg zu beenden. Winde stöberten die Erdherren aus Stein und Blatt auf, in deren Gestalten sie Zuflucht gesucht hatten; die Toten trieben sie stumm und erbarmungslos aus dem Land, das sie einst geliebt hatten. Sie jagten durch das Hinterland, durch regennasse, dunkle Wälder, über kahle Hügel, über die eisstarren Seen von Lungold. Von den Winden geführt und von den Toten gefolgt, blieb Morgon ihnen unerbittlich auf den Fersen und hetzte sie über die Schwelle des Winters. So erbarmungslos, wie einst sie ihn gejagt hatten, trieb er sie jetzt dem Erlenstern-Berg zu.
Noch ein letztes Mal versuchten sie, ihn niederzukämpfen, als er sie ins Innere des Berges zwang. Doch die Toten erhoben sich um ihn wie Stein, und die Winde fielen sie wütend an. Er hätte sie vernichten, ihnen alle Macht entreißen können, so wie sie das bei ihm versucht hatten. Doch etwas von ihrer Schönheit hatte sich in Rendel bewahrt. Es ließ ihn ahnen, was sie hätten sein können, und er brachte es nicht über sich, sie zu töten. Er rührte nicht einmal ihre geistigen Kräfte an. Er trieb sie in den Erlenstern-Berg, wo sie sich vor ihm in die Gestalt von Wasser und Edelstein flüchteten. Er verschloß den ganzen Berg — alle Schächte und verborgenen Quellen, die Oberfläche der Erde und den Grund aus Fels und Stein — mit seinem Namen. Und die Toten band er in Bäume und Stein, Licht und Wind rund um den Berg, ihn zu bewachen. Dann ließ er die Winde spielen, und sie überzogen von Norden her das ganze Reich mit Winter.
Danach kehrte er von Erinnerungen getrieben auf die Ebene der Winde zurück. Sie war vollkommen mit Schnee bedeckt. Unter den Bäumen rundherum stiegen zahllose Rauchfahnen in die Luft. Niemand hatte die Ebene verlassen. Männer, Frauen und Tiere waren geblieben, seine Rückkehr zu erwarten. Sie hatten ihre Toten begraben und Nachschub kommen lassen; sie waren gerüstet, den Winter hier auf dieser Ebene zu verbringen, die sie gefesselt hielt.
Neben der Ruine des Turms trat Morgon in seiner natürlichen Gestalt aus den Winden. Er hörte die Stimme der Morgol, die mit Goh sprach. Er sah Har, der den Knochen am gebrochenen Lauf einer Vesta prüfte. Er wußte nicht, ob Eliard noch am Leben war. Langsam hob er den Kopf und blickte auf das riesige steinerne Grab und trat in seinen Schmerz hinein. Er drückte sein Gesicht an einen der kalten, schönen Steine und umspannte ihn mit den Armen, während ihn danach verlangte, die ganze Gruft zu umschließen, in sein Herz aufzunehmen. Er fühlte sich plötzlich gefesselt, als wäre er der Geist eines Toten, und als wäre seine ganze Vergangenheit unter diesen Steinen begraben.
Während er dort in seiner Trauer stand, kamen langsam die ersten Menschen über die Ebene geschritten. Er sah sie, ohne zu denken, mit dem Auge seines Geistes: winzige Gestalten, die über die leere, schneebedeckte Ebene schwärmten. Als er sich schließlich umdrehte, sah er, daß sie ihn in einem Kreis tiefen Schweigens umgaben.
Sie waren, daß spürte er, so zu ihm hingezogen worden, wie er immer zu Thod hingezogen worden war: ohne Grund, ohne Frage, einfach aus Instinkt. Die Landherrscher des Reiches und die vier Zauberer standen ruhig an seiner Seite. Sie wußten nicht, was sie sagen sollten, während er dort in all seiner Macht und all seinem Schmerz vor ihnen stand. Sie wußten nur, daß er diesem uralten Land endlich Frieden gebracht hatte.