Er blickte auf all die Gesichter, die ihm so vertraut waren. Sie waren gezeichnet von der Trauer um den Erhabenen und die Gefallenen. Als er Eliard unter ihnen entdeckte, spürte er, wie sich in seinem Herzen etwas schmerzhaft zusammenzog. Nie zuvor hatte er Eliards Züge so gesehen — farblos und starr wie die winterliche Erde. Viele seiner Bauern waren gefallen und nach Hed zurückgebracht worden, um dort im froststarren Land begraben zu werden. Der Winter würde hart werden für die Lebenden, und Morgon wußte nicht, wie er seinen Bruder trösten sollte. Doch noch während Eliard Morgon stumm ansah, leuchtete in seinen Augen etwas auf, das nie ein Teil des stets gleichbleibenden Erbes der Fürsten von Hed gewesen war — ein Funken von Wissen um das Geheimnisvolle.
Morgons Blick wanderte zu Astrin. Er schien noch immer wie betäubt von Heureus Tod und dem Bewußtsein der weitreichenden Macht, die auf ihn übergegangen war.
»Es tut mir leid«, sagte Morgon. Die Worte klangen so dünn und nichtssagend, wie der Schnee es war, der die massigen Steine hinter ihm überzog. »Ich spürte seinen Tod. Aber ich konnte — ich konnte ihm nicht helfen. Ich spürte so viel Tod.«
Das eine weiße Auge schien bei dem Wort tief in ihn hineinzublicken.
»Ihr lebt«, flüsterte Astrin, »Erhabener. Ihr habt überlebt, um Euch endlich selbst Euren Namen zu geben, und Ihr habt diesem Morgen Frieden gebracht.«
»Frieden.« Er fühlte die eisige Kälte der Steine hinter sich.
»Morgon«, sagte Danan leise, »als wir den Turm einstürzen sahen, glaubte keiner von uns, daß er den nächsten Tag noch sehen würde.«
»Und so viele haben ihn nicht mehr gesehen. So viele von Euren Bergleuten sind gefallen.«
»So viele sind nicht gefallen. Ich habe einen mächtigen Berg voller Bäume. Ihr habt ihn uns zurückgegeben. Ihr habt uns eine Heimat geschenkt, in die wir zurückkehren können.«
»Wir haben den Übergang der Macht vom Erhabenen auf seinen Erben erlebt«, bemerkte Har. »Wir haben einen Preis dafür bezahlt, das miterleben zu dürfen, aber — wir haben überlebt.« Seine Augen leuchteten milde im reinen, kalten Licht. Er zog seinen Umhang fester um seine Schultern — ein knorriger, alter König, in dessen Herz die frühesten Erinnerungen an das Reich wohnten. »Ihr habt einen großen Kampf geführt, und Ihr habt gesiegt. Grämt Euch nicht um den Erhabenen. Er war alt, dem Ende seiner Macht nahe. Er hinterließ Euch ein vom Krieg zerrissenes Reich, ein schreckliches Erbe, und seine ganze Hoffnung. Ihr habt ihn nicht enttäuscht. Jetzt können wir alle in Frieden heimwärts ziehen und brauchen den Fremden an unserer Türschwelle nicht mehr zu fürchten. Wenn die Tür sich unerwartet den Winterstürmen öffnet und wir vom warmen Feuer aufblicken, um den Erhabenen in unserem Haus zu finden, dann werdet Ihr es sein. Dieses Geschenk hat er uns hinterlassen.«
Morgon schwieg. Wieder nagte der Schmerz an ihm wie eine züngelnde Flamme trotz all ihrer Worte. Da spürte er in einem von ihnen einen gleichartigen Schmerz, den keine Worte stillen konnten. Er suchte ihn und fand ihn in Mathom, der müde dastand, wie beschattet vom Tod.
Morgon trat einen Schritt auf ihn zu.
»Wer?«
»Duac«, antwortete der König. Er holte tief Atem, während er dunkel wie der Geist eines Toten im weißen Schnee stand. »Er weigerte sich, in An zu bleiben — die einzige Auseinandersetzung, bei der ich je verloren habe. Mein Landerbe mit den Augen des Meeres.«
Morgon blieb stumm, während er sich fragte, wie viele seiner Bindungen zerrissen worden waren, wie viele Tode er nicht gespürt hatte. Aus einer Erinnerung heraus sagte er unvermittelt: »Ihr wußtet, daß der Erhabene hier sterben würde.«
»Er gab sich zu erkennen«, erwiderte Mathom. »Ich brauchte das nicht zu träumen. Begrabt ihn hier, wo er seinen Tod suchte. Laßt ihn ruhen.«
»Ich kann nicht«, flüsterte Morgon. »Ich war sein Tod. Er wußte es. Die ganze Zeit wußte er es. Ich war sein Schicksal, so wie er das meine war. Unsere Leben waren in einem einzigen, beständigen Rätselkampf verknüpft. Er schmiedete das Schwert, das ihn tötete, und ich habe es ihm hierher gebracht. Wenn ich gedacht hätte — wenn ich gewußt hätte.«
»Was hättet Ihr getan? Er besaß nicht die Kraft, diesen Krieg zu gewinnen. Er wußte, daß Ihr ihn gewinnen würdet, wenn er Euch seine Macht übertrug. Diesen Kampf zumindest hat er gewonnen. Nehmt es an.«
»Ich kann nicht — noch nicht.« Er legte eine Hand auf die Steine. Dann hob er den Kopf und suchte am Himmel etwas, das er in seinem Geist nicht finden konnte. Doch das Antlitz des Himmels war bleich und starr.
»Wo ist Rendel?«
»Eine Zeitlang war sie bei mir«, antwortete die Morgol. Ihr Gesicht war so still wie der Wintermorgen. »Dann verschwand sie. Um Euch zu suchen, glaubte ich. Aber vielleicht braucht auch sie Zeit für ihren Schmerz.« Sie lächelte ihn an und berührte sein Herz. »Morgon, er ist tot. Aber für kurze Zeit habt Ihr ihm etwas gegeben, das er lieben konnte.«
»Und Ihr auch«, flüsterte er.
Danach wandte er sich ab, um irgendwo im Inneren seines Reiches seinen eigenen Trost zu finden. Er wurde zu Luft oder Schnee, manchmal blieb er auch er selbst. Er wußte es nicht. Er wußte nur, daß er keine Fußstapfen im Schnee hinterließ, denen einer hätte folgen können.
In vielen Gestalten streifte er durch das Land und knüpfte die zerrissenen Bindungen neu, bis es keinen Baum, kein Insekt, keinen Menschen im ganzen Reich gab, den er nicht kannte. Nur eine Frau gewahrte sein Geist nie. Die Winde, die in ihrer grenzenlosen Neugier alles erforschten, berichteten ihm von Edelleuten und Kriegern, die, heimatlos geworden, an Astrins Hof Zuflucht suchten, von Händlern, die mit den stürmischen Meeren kämpften, um Getreide von An und Herun und Bier aus Hed in das vom Krieg verheerte Land zu bringen. Sie ließen es ihn wissen, als die Vesta nach Osterland heimkehrten, und sie erzählten ihm, daß der König von An seine Toten wieder in die Erde der Drei Teile eingebunden hatte. Sie lauschten den Zauberern, die in Caithnard den Wiederaufbau der großen Schule in Lungold berieten, während die Rätselmeister das letzte der ungelösten Rätsel auf ihren Listen lösten. Er spürte, daß Har an seiner Feuerstelle mit den Wölfen zu seinen Füßen auf ihn wartete. Er fühlte den Blick der Morgol, die dann und wann über die Mauern ihres Hauses und die Hügelketten ihres Landes hinweg nach ihm und Rendel Ausschau hielt.
Er versuchte, seinen Schmerz zu stillen, indem er endlose Tage lang in der Einöde saß wie ein verwittertes Geflecht alter Wurzeln und Schritt um Schritt die Spiele zusammensetzte, die der Harfner gespielt hatte, und er verstand sie. Doch das Verstehen tröstete ihn nicht. Er versuchte, auf einer Harfe zu spielen, die so unermeßlich war wie der Nachthimmel und von Sternen übersät, doch auch das brachte ihm keinen Frieden. Rastlosigkeit trieb ihn von kalten, kahlen Gipfeln hinunter in stille Wälder und selbst an die Feuer von Gasthäusern und Bauernhäusern, wo er mit Freundlichkeit als ein Fremder aufgenommen wurde, der Schutz vor der Kälte suchte. Er wußte nicht, wonach sein Herz verlangte; warum der Geist des Harfners keine Ruhe fand.
Eines Tages grub er sich aus einer Schneewehe in der nördlichen Einöde, fühlte sich nach Süden getrieben, ohne zu wissen, warum. Er wandelte sich auf seinem Weg quer durch das Reich unzählige Male in immer andere Gestalten, doch in keiner fand er Frieden. Er begegnete dem Frühling auf seinem Weg nach Norden, und die Unrast in ihm wurde noch drängender. Die Winde, die aus Westen und Süden wehten, rochen nach frisch gepflügter Erde und Sonnenschein. Sie schlugen sanftere Töne auf seiner Windharfe an. Doch in ihm waren keine sanften Gefühle. In Bärengestalt trottete er durch Wälder, schwang sich in Falkengestalt zum Mittagshimmel hinauf. Drei Tage lang hockte er auf dem Bug eines Handelsschiffes, das schwankend auf den Wellen des Meeres ritt, bis die Seeleute, denen seine starren Seevogelaugen unheimlich wurden, ihn fortscheuchten. Fliegend, kriechend, mit einer Horde von Wildpferden galoppierend, folgte er der Küste von Ymris, bis er Meremont erreichte. Dort trieben seine Erinnerungen ihn zur Ebene der Winde.