Es schien, als habe Michael ihre Gedanken gelesen.
»Ich werde nicht ertrinken, Mom. Und ich werde auch keinen Asthmaanfall bekommen, ich schwöre es.«
Noch zögerte Katharine, doch dann erinnerte sich an etwas anderes. Auch Michaels Vater war ins Tauchen vernarrt gewesen, lange bevor Michael geboren wurde. Tom Sundquist war ein begeisterter Surfer, Skifahrer und Drachenflieger gewesen, er betrieb sämtliche Sportarten, die Katharine zu Tode ängstigten. Und wenn er jetzt hier wäre, sie wüßte genau, was er sagen würde. Sie holte tief Luft und sprach die Worte, die Tom nicht mehr sprechen konnte: »Also los. Man lebt schließlich nur einmal, stimmt's?«
Michael stieß einen Freudenschrei aus, umarmte sie so heftig, als ob er sie zerquetschen wollte, und verschwand im Haus, wahrscheinlich, um schnell das Anmeldeformular auszufüllen.
Rob streckte entschuldigend die Arme aus. »Vielleicht hätte ich die Broschüre nicht mitbringen sollen ...«, setzte er an, aber Katharine schüttelte den Kopf.
»Ich bin froh, dass du es getan hast, Rob. Dieser Umzug hat ihm gar nicht gefallen. Vielleicht wird es dadurch leichter.«
»Ich weiß, was er durchmacht«, sagte Rob. »Wie alt ist er jetzt, fünfzehn, sechzehn?«
»Sechzehn.«
»Schwere Zeiten für einen Jungen. Als ich ungefähr in seinem Alter war, lernte meine Mutter meinen ...« Er unterbrach sich, und nach ein paar Sekunden wechselte er abrupt das Thema. »Na ja, aber einem Jungen in dem Alter muss man eben auch manches durchgehen lassen. Ein Teil von ihm will immer Neues kennenlernen, aber ein anderer Teil mag es gar nicht, wenn sich Dinge ändern.«
Mittlerweile beendete Katharine im stillen den Satz, den Rob abgebrochen hatte: ... lernte meine Mutter meinen Stiefvater kennen, hatte er sagen wollen. Während die Sonne am Horizont unterging, stand sie auf der Veranda und sah ihn an.
Rob suchte ihren Blick.
Keiner von ihnen sagte etwas.
Es war auch nicht nötig.
Als Katharine aus einem unruhigen Schlaf erwachte, war es fast zwei Uhr nachts. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wo sie war, aber dann hörte sie, dass die Straßengeräusche New Yorks von leisem Insektenzirpen abgelöst worden waren, und stellte fest, dass sie statt stickiger Zimmerluft einen sanften tropischen Hauch einatmete. Ihr fiel ein, wo sie war. Sie stieg aus dem Bett und hüllte sich in einen dicken Frotteebademantel. Wegen der Höhe waren die Nächte hier empfindlich kühl. Als sie auf die Veranda trat, sah sie, dass auch Michael aufgewacht war und draußen saß. Schweigend stand sie eine Weile neben ihm und sah zum Himmel hinauf. So viele Sterne hatte sie seit ihrer Zeit in Afrika nie mehr gesehen. Schließlich legte sie eine Hand auf Michaels Schulter. »So schrecklich ist es doch gar nicht, oder, Liebling?«
Michael zögerte kurz und zuckte dann mit den Schultern. Als er etwas sagte, klang seine Stimme eher ängstlich als ungehalten. »Nein, es ist nicht schrecklich, im Gegenteil, es ist wunderschön. Es ist nur so, dass die Dinge in New York endlich gut für mich liefen, Mom, ich meine, wirklich gut. Was, wenn ich hier keine Freunde finde oder nicht ins Leichtathletikteam komme oder ...«
»Oder was, wenn du alles einfach mal auf dich zukommen läßt?« unterbrach ihn Katharine. »Morgen gehst du erst einmal tauchen. Das ist doch schon mal alles andere als schrecklich, oder?«
Schweigend blieben sie eine Zeitlang nebeneinander stehen, bis sich Katharine sagte, dass sein Schweigen vielleicht besser war als die Antwort, die er auch hätte geben können. Als er sich ihrem Gutenachtkuß nicht entzog, nahm sie das als Zeichen, dass schließlich doch noch alles gut würde.
Michael aber blieb noch lange auf der Veranda sitzen, nachdem seine Mutter wieder ins Haus gegangen war. Er dachte nach, und die widersprüchlichsten Gefühle wirbelten in seinem Kopf herum. Er hatte sich eigentlich gar nicht bei seiner Mutter beklagen wollen und bedauerte es, seine Ängste preisgegeben zu haben wie ein kleiner Junge. Aber er hatte wirklich Angst davor, am Montag in die neue Schule zu gehen. Und wie sollte er es hier drei Monate lang aushalten?
Hätten sie nicht zumindest näher an den Strand ziehen können?
KAPITEL 4
Immer wieder blickte Michael verstohlen in die Gesichter der sechs Leute, die den Tauchlehrer umringten, und fragte sich, ob sie wohl auch so nervös waren wie er. Noch gestern, ja noch heute morgen - vor gerade mal einer halben Stunde - fand er die Vorstellung, im Ozean zu tauchen, total cool. Aber heute morgen war er in einem Schwimmbecken getaucht. Dort gab es keine Brandung, das Wasser war seicht, und er war mit Dave und drei anderen Anfängern allein gewesen, während ein zweiter Lehrer am Rand gestanden und aufgepaßt hatte, für alle Fälle.
Zum Beispiel für den Fall, dass man zu ertrinken drohte.
Jetzt aber standen sechs Leute neben ihm, auf die Dave keinesfalls gleichzeitig achten konnte, und der Ozean war erheblich größer als das Schwimmbecken.
Außerdem hatte er Schwierigkeiten gehabt, den Tauchanzug überzustreifen, der saß unangenehm eng, und das schwarze Gummi heizte sich in der prallen Sonne schnell auf. Michael schwitzte bereits, und dort, wo ihm der Schweiß in kleinen Rinnsalen den Rücken hinablief, juckte es mächtig unter der Gummihaut.
Auch die Ausrüstung wirkte wesentlich klobiger als noch vor einer halben Stunden. Die Sauerstoffflasche schien plötzlich viel schwerer, und als sie auf seinem Rücken festgeschnallt war, schien ihn das Gewicht nach hinten zu ziehen. Aber jetzt würde er ganz bestimmt nicht mehr kneifen. Er hob Flossen und Maske auf, überprüfte noch einmal den Sitz des Mundstücks und ging zum Strand.
Die Wellen, die noch vor ein paar Minuten, als er aus dem Bus gestiegen war und die Ausrüstung in den kleinen Park oberhalb des Strands getragen hatte, nach gar nichts ausgesehen hatten, schienen sich plötzlich in riesige Brecher verwandelt zu haben, auch wenn das eigentlich unmöglich war.
Aber nicht ganz unmöglich.
Er hörte eine Stimme hinter sich: »Du tauchst zum erstenmal, stimmt's?«
Michael zuckte zusammen. Er glaubte einen feindseligen Ton in der Frage gehört zu haben, und sofort tauchte Slotzkys hämisch grinsendes Gesicht vor ihm auf. Aber Slotzky war natürlich nicht hier. Er war in New York und fror sich dort, wie Michael hoffte, den Hintern ab. Dennoch wollte Michael nicht zugeben, dass er zum erstenmal tauchte und bislang nur im Pool trainiert hatte. »Nein, nein, ich hab's schon ein paarmal gemacht.«
»Ich tauche, seit ich zehn bin«, sagte die Stimme, und Michael erkannte den Akzent, den er mittlerweile schon als einheimisch identifizieren konnte. »Das erstemal habe ich mir vor Angst fast in die Hose gemacht. Als wir im Pool geübt haben, natürlich noch nicht.«
Sie hatten den Strand erreicht, und jetzt erst warf Michael einen Blick auf den Typ. Er gehörte nicht zu seiner Gruppe und Michael sah, dass er auch kein Tourist war. Der Junge war ungefähr so alt wie er, aber kleiner, und sein Körper wirkte selbst unter dem steifen Taucheranzug sehnig. Seine Augen waren fast so schwarz wie sein Haar, und als der Junge ihn angrinste, leuchteten seine Zähne fast unnatürlich weiß.
Michael wusste nicht genau, ob das Grinsen freundlich gemeint war oder nicht. »Tauchst du allein?« fragte er den Jungen.
»Klar«, antwortete der andere. »Mach' ich oft.«
Michael erinnerte sich, dass sein Vater immer gesagt hatte, man solle nie ohne Partner tauchen, aber der Junge sah nicht so aus, als würde er sich von einem Anfänger etwas sagen lassen. Er zog sich bereits seine Flossen an, und Michael bückte sich ebenfalls. Doch noch ehe er seinen Fuß in die Flosse bekommen hatte, war die bereits voller Sand. Schwankend bemühte er sich, beide Flossen überzustreifen.