Er ging wieder tiefer hinab und schwamm um das Riff herum, doch Les war nirgends zu sehen. Gerade wollte er umdrehen, um die andere Seite des Riffs abzusuchen, als er plötzlich etwas sah.
Das Ende einer Schwimmflosse. Es war nur eine, und sie ragte aus dem Riff heraus. Ihr heller neongrüner Streifen leuchtete im Sonnenlicht. Hatte jemand sie verloren?
Doch dann bewegte sie sich, zuckte wild hin und her.
Was in aller Welt...
Dann wusste Michael Bescheid.
Jemand steckte in Schwierigkeiten, und es handelte sich nicht um Les. Sein Partner trug die gleichen schwarzen Schwimmflossen wie er.
Mit schnellen Bewegungen schwamm Michael auf die Stelle zu. Als er einen Vorsprung im Riff umrundete, sah er, was geschehen war. Es gab dort eine kleine Höhle im Riff, und der Taucher, dessen Fuß in der Flosse steckte, hatte offenbar in die Öffnung hineinschauen wollen. Jetzt steckte er fest. Nun sah Michael auch die Beine des Tauchers. Die zweite Flosse hatte er in den Sand gebohrt, offenbar um Halt zu finden, aber ohne Erfolg, wie Michael sah. Es wurde lediglich Sand aufgewirbelt, und dort, wo sich der Taucher abzustützen versuchte, entstand eine Mulde. Michael packte eine der Flossen. Die Person, die in der kleinen Höhle feststeckte, merkte, dass Hilfe gekommen war, und wurde ruhiger.
Michael zog am Fuß des Tauchers. Nichts.
Er schwamm näher an die Höhle heran und warf einen Blick hinein. Dann wusste er, warum er den Taucher nicht herausziehen konnte. Seine Sauerstoffflasche hatte sich in der Spalte verkeilt. Vorsichtig versuchte Michael die Flasche zu lösen, aber die Höhle war so dunkel, dass er überhaupt nichts erkennen konnte. Außerdem konnte er die Flasche nicht richtig packen. Schließlich tat er das einzig Mögliche: Er tastete nach den Verschlüssen an den Gurten der Sauerstoffflasche und öffnete sie. Dann holte er tief Luft, stützte sich mit beiden Füßen an den Seiten der Höhle ab, packte den Taucher bei den Knöcheln und zog kräftig.
Der in der Höhle gefangene Taucher rutschte unter den Flaschen hindurch, und in dem Augenblick, als er mit dem Kopf aus der Höhle herauskam, war Michael bereit. Er holte noch einmal tief Luft, zog sein Mundstück aus dem Mund und hielt ihm dem anderen Taucher vors Gesicht.
Es war der Junge, mit dem er am Strand gesprochen hatte.
Der Junge, der allein getaucht war.
Als Michael ihn aus der Höhle gezogen hatte, war die Gesichtsmaske des anderen Jungen abgerutscht, aber er spürte den Versorgungsschlauch, den Michael ihm hinhielt, steckte sich das Mundstück zwischen die Lippen, holte tief Luft und reichte es wieder Michael. Er zog an dem Notfallstrick seiner Schwimmweste, und sie blies sich auf. Dann zeigte er nach oben. Während der hawaiianische Junge an die Oberfläche stieg, ließ auch Michael seine Schwimmweste aufblasen. Sekunden später fand er sich an der Oberfläche wieder und sah dem anderen ins Gesicht.
Erleichtert schnappte der Junge nach Luft.
»Bist du okay?« fragte Michael. »Schaffst du es bis zum Strand?«
Der Junge nickte. »Wo ist dein Partner?«
»Der ist dauernd verschwunden. Ich hatte gerade nach ihm gesucht, als ich dich entdeckt hab'.«
Sie schwammen zurück, und der Junge, den er gerettet hatte, achtete darauf, dass Michael nicht den Anschluß verlor, bis sie den Strand erreicht hatten. Dann steckte der Junge seinen Kopf unter Wasser. Als er wieder auftauchte, ging ihm das Wasser nur noch bis zur Brust, obwohl sie sich hinter der Wellenlinie befanden.
»Nimm deine Flossen ab«, sagte er zu Michael. »Dann machen wir die Sauerstoffflasche ab.«
Michael ließ sich ins Wasser fallen, zog seine Schwimmflossen aus und stand auf. Er spürte, wie der andere Junge die Flasche anhob, damit er sich aus dem Gurt lösen konnte. »Was ist mit deiner?« fragte er.
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Die hol' ich später. Ich weiß ja, wo sie ist, und sie wird sicher nirgendwo hingehen.« Während sie durch die Brandung zum Strand wateten, reichte der Junge Michael die Hand. »Ich bin Josh Malani.«
»Michael Sundquist«, entgegnete Michael.
»Mike?«
»Michael«, verbesserte Michael. »Niemand nennt mich Mike.«
Josh Malani grinste breit. »Aber jetzt nennt dich jemand Mike. Gewöhn dich dran. Wie lange bleibst du auf Maui?«
Sie hatten den Strand erreicht. Josh legte die Sauerstoffflasche in den Sand, und sie schälten sich aus ihren Tauchanzügen. »Ich bin gerade erst hierhergezogen.«
Joshs Miene hellte sich auf. »Du bist also kein Tourist?«
Michael schüttelte den Kopf. »Meine Mom arbeitet hier. Wir sind erst gestern angekommen.«
»Nicht schlecht, Mann«, meinte Josh. »Erst einen Tag hier, und schon hast du einen besten Freund!«
Michael bückte sich, um seine Flasche aufzuheben, aber Josh kam ihm zuvor und trug sie für ihn über den Strand zu dem kleinen Park. Michael blieb stehen.
»Was ist, wenn ich dich nicht leiden kann?« rief er hinter Josh her. »Was ist, wenn du dich als absoluter Spinner herausstellst?«
Josh blickte über die Schulter, und sein offenbar ständig wiederkehrendes Grinsen wurde noch breiter. »Eine Menge Leute halten mich für einen Spinner. Aber du kannst nichts machen. Mein Großvater ist Chinese. Wenn du einem Chinesen das Leben rettest, bist du für ihn verantwortlich. Du klebst praktisch an ihm. Gewöhn dich dran.«
KAPITEL 5
Katharine stellte gerade den letzten Koffer in ein Schrankfach, als sie eine Autohupe hörte. Sie sah aus dem Fenster und erkannte Rob Silvers Explorer, der aus dem Eukalyptuswald auf die Lichtung fuhr. Mit einem Blick auf die Uhr, die auf dem Nachttisch stand, stellte sie zufrieden fest, dass Rob offenbar wie früher auf die Minute pünktlich war. Er hatte gesagt, er würde um zwei Uhr kommen, und nun war es genau zwei. Sie nahm ihren verschlissenen Leinenrucksack, der ihr seit ihrer Zeit in Afrika als Feldtasche diente, und trat in dem Augenblick auf die Veranda hinaus, als Rob sich aus dem Explorer schwang.
»Laß mich raten«, sagte er lächelnd. »Du hast gerade die letzten Koffer verstaut, als ich gehupt habe, stimmt's?«
»Na schön, also sind wir immer noch die penibelsten Leute, die wir kennen«, sagte Katharine lachend, während sie in den Explorer stieg. »Obwohl ich es einfach als perfektes Timing bezeichnen würde. Muss ich das Haus abschließen?«
Rob schüttelte den Kopf. »Hier oben nicht. Hast du die Schlüssel gefunden? Sie lagen, glaube ich, auf der Arbeitsfläche in der Küche.«
»Ich hab' sie«, entgegnete Katharine. »Und jetzt nichts wie los. Ich kann es kaum erwarten, deine geheimnisvolle Fundstelle zu sehen.«
Rob wendete in einem weiten Bogen, steuerte auf den schmalen Weg durch den Eukalyptuswald und fuhr den Berg hinab. »Heute nachmittag wirst du deinen eigenen Wagen bekommen«, sagte er zu ihr, als sie ein paar Minuten später Makawao erreichten, wo er nach rechts abbog und in Richtung Haiku fuhr. »Es ist im Grunde der gleiche wie dieser hier, nur ein bißchen älter. Aber er ist umsonst.«
Katharine zog die Augenbrauen hoch. »Ein Gehalt, das doppelt so hoch ist wie das, was ich gewöhnlich kriege, Reisespesen für mich und meinen Sohn, ein Haus und jetzt noch ein Auto. Wer bezahlt dich? Die National Science Foundation sicher nicht.«
»Völlig richtig«, antwortete Rob. »Es ist nicht die NSF. Es ist ein Mann namens Takeo Yoshihara. Hast du den Namen schon mal gehört?« Katharine schüttelte den Kopf. »Seine Zentrale ist in Tokio, und er arbeitet weltweit, verbringt aber einen großen Teil seiner Zeit hier.«
»Wie bist du auf ihn gestoßen?« fragte Katharine. »Und gibt es noch einen wie ihn, der sich für Ur- und Frühgeschichte interessiert?«
»Er ist auf mich gestoßen«, entgegnete Rob. »Er interessiert sich für alles, was mit dem Pazifik zu tun hat, die eingeborenen Kulturen eingeschlossen. Er hat hier eine ziemlich beeindruckende Anlage bauen lassen. Du wirst sie auf dem Weg zum Fundort sehen.«