Der Bus fuhr den Hügel hinunter und hielt noch dreimal an. Michael spürte, dass ihn alle ansahen, aber keiner sagte ein Wort.
Es würde alles genauso schlimm werden, wie er befürchtet hatte.
Schließlich hielt der Bus auf dem Schulparkplatz, und während die ersten Schüler ausstiegen, seufzte Michael erleichtert auf. Bis jetzt war nichts passiert, und vielleicht würden sich Joshs düstere Voraussagen als übertrieben erweisen.
Vielleicht begnügten sie sich damit, ihn zu ignorieren.
Er stand auf und wollte durch den Gang zur Ausgangstür gehen, als er zwei Jungen sah - beide größer als er -, die so taten, als versuchten sie, eine eingeklemmte Tasche unter einem Sitz hervorzuziehen.
Für wie blöd hielten sie ihn?
Und warum war Josh Malani nicht auch mit dem Bus gekommen?
Als ihm klar wurde, dass die Jungen nicht eher gehen würden als er, gab er sich einen Ruck und ging weiter. Als er an ihrem Sitzen vorbeikam, trat einer der beiden in den Gang. Einen Augenblick lang dachte Michael, dass er sich ihm in den Weg stellen wollte.
Statt dessen ging der Junge zum Ausgang.
Michael zögerte. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, dass er sich vor den beiden fürchtete. Selbst wenn sie einen Kopf größer waren als er und zehn Kilo schwerer, den Gefallen wollte er ihnen nicht tun.
Michael ging weiter. Der zweite Junge folgte ihm.
Er ging so dicht hinter ihm, dass er den Atem des anderen in seinem Nacken spürte.
»Wieso bleibt ihr Angeber nicht da, wo ihr hingehört?« zischte der Junge hinter ihm, leise genug, dass es der Busfahrer nicht mitbekam. Plötzlich blieb der Junge vor ihnen stehen.
Der andere schubste Michael.
»Was, zum Teufel, machst du da, Arschloch?« sagte der vordere und drehte sich mit düsterem Blick zu ihm um. »Ihr haoles glaubt wohl, euch gehört alles. Aber weißt du was? Da scheiß' ich drauf.«
Michael wusste, dass nichts, was er jetzt sagen konnte, seine Lage verbessern würde. Er bereitete sich schon auf die Faust vor, die in seiner Magengrube landen würde, als eine Männerstimme ertönte.
»Aber nicht in meinem Bus!« sagte der Fahrer. Er war aufgestanden und sah Michaels Gegner streng an.
Der Junge vor Michael zögerte kurz. Dann drehte er sich um und stieg wortlos aus. Da der zweite Junge hinter ihm drängte, hatte Michael keine andere Wahl, als ebenfalls auszusteigen. Er fürchtete, dass die Auseinandersetzung nun draußen weitergehen würde. Wenn doch nur Josh Malani auftauchen würde. Auch wenn Josh wahrscheinlich nicht besser gegen zwei Typen kämpfen konnte, die doppelt so schwer waren wie er, konnte er diese Gorillas vielleicht durch Worte davon abhalten, ihn grün und blau zu schlagen.
Aber als er aus dem Bus stieg, hatte sich die Lage zumindest etwas verändert. Plötzlich waren sie von einem Dutzend anderer Schüler umgeben, und was immer Michaels Quälgeister sich ausgedacht hatten, mussten sie zumindest kurzfristig aufschieben. Der größere bedachte ihn noch mit dem gleichen, nichts Gutes versprechenden Blick, den er von Slotzky kannte, von dem Tag, als er Michael den Arm aufgeschnitten und ein blaues Auge verpaßt hatte. »Nach der Schule«, sagte der Junge drohend. »Oder vielleicht morgen. Aber keine Sorgen, haole - wir kriegen dich.« Damit drehte er sich um und verschwand mit seinem Freund in der Menge der Schüler.
Michael sah ihnen hinterher und fragte sich, ob dieser Typ wohl fester zuschlagen konnte als Slotzky in New York.
Wahrscheinlich viel fester.
Die leichte Verschiebung in der Erdkruste unter der Insel Hawaii war so minimal und vollzog sich so langsam, dass es Stunden dauerte, bevor es jemand registrierte; außer den Maschinen natürlich.
Die Maschinen registrierten alles. Dafür waren sie schließlich gebaut worden. Empfindliche Instrumente nahmen die winzigen Beben auf, die ein neuer Riß tief in den Eingeweiden des Vulkans Mauna Loa hervorgerufen hatte, und sandten die Daten an weitere Maschinen.
Keine Alarmglocken schlugen, keine Sirenen heulten auf. Es gab keine Warnung vor einer der Springfluten, die den plötzlichen größeren Verschiebungen im Meeresboden folgen können.
Statt dessen flüsterten sich die Maschinen eifrig Informationen zu und reichten die Nachrichten von den Aktivitäten unter dem Mauna Loa von einer Schnittstelle zur nächsten weiter. Sie taten das so lange, bis die Computer bereits Modelle entwarfen, um die Zukunft des Planeten vor den Folgen dieser winzigen Verschiebung zu schützen. Noch immer hatte kein Mensch die Bewegung wahrgenommen.
Tief unter dem Berg bahnte sich geschmolzene, kochende Lava ihren Weg an die Oberfläche. Sie zwängte sich durch die Spalten und Risse, die der Druck von unten geöffnet hatte, weitete sie aus und füllte sie, und sie sammelte immer mehr Kraft, um nach oben aufzusteigen.
Jetzt bemerkten es auch die Menschen.
Die ersten auf Maui, die unter ihren Füßen das Zittern der Erde spürten, waren die Techniker, die sich um die Teleskope auf der Spitze des Haleakala kümmerten. Ihre Computer waren speziell darauf programmiert, sie vor vulkanischer Tätigkeit zu warnen - trotz der mächtigen Betonblöcke, auf denen die Teleskope standen, und der Schockabsorber, die sie vor den kleinsten Erschütterungen schützen sollten. Denn jedes noch so kleine Beben vereitelte die Beobachtung des Universums jenseits der Grenzen des Planeten.
Wenn die Erde sich bewegt, kann nichts sie aufhalten.
Dann muss jede astronomische Beobachtung abgebrochen werden.
Phil Howell ärgerte sich. Die Erfahrung sagte ihm, dass Beben dieser Art sich stets fortsetzten und dass auch dieses während der nächsten Tage andauern würde. Das hieß, dass er den Stern, den er im Whirlpool der Galaxie beobachtet hatte, fünfzehn Millionen Lichtjahre entfernt, vorerst vergessen konnte.
Der Stern faszinierte Howell aus zwei Gründen. Zum einen schien er die Quelle eines Signals zu sein, das verschiedene funkteleskopische Antennen schon seit einigen Jahren empfingen. Bislang existierten diese Signale nur als Bruchstücke, und er war gerade erst dabei, sie zusammenzufügen.
Zum anderen verwandelte sich der Stern in eine Nova. Das Funksignal, da war er sicher, würde sich bald als Ankündigung der bevorstehenden Zerstörung des Sterns herausstellen.
Aber jetzt hatte ihn der Computer darüber informiert, dass die Unruhe in der Erde seine Beobachtung des Himmels auf unbestimmte Zeit unterbrechen würde. Er überließ es den Computern, die Funksignale zu entschlüsseln, und beschloß, den restlichen Tag freizunehmen. Er wollte rausfahren und sich den Fundort ansehen, von dem Rob Silver seit einem Monat sprach. Robs Entdeckung schien verlockend, wenn auch nicht ganz so verlockend wie die Aussicht, dort auch Katharine Sundquist kennenzulernen, die Frau, von der Rob Silver ebenso fasziniert zu sein schien wie Phil von dem fernen Stern. Sollten sich die Computer um das Universum kümmern. Er schloß sein Büro ab und machte sich auf den Weg nach Hana.
Die automatische Kamera klickte. Katharine hatte auf den Auslöser gedrückt. Jetzt veränderte sie ihre Position ein wenig. Sie achtete schon längst nicht mehr auf die Fliegen, die um sie herumschwirrten, und auch nicht auf den Schweiß, der ihr in schlammigen Bächen über das Gesicht lief. Sie hatte so viele Stunden vor dem Schädel - der mittlerweile fast gänzlich freigelegt war - gehockt, dass ihr jeder Knochen im Leib weh tat. Aber auch diese Schmerzen nahm sie so wenig wahr wie Fliegen und Hitze.
Sie musste diese Aufnahmen machen, eine bildliche Dokumentation der Lage, in welcher der Schädel und der Rest des Skeletts gefunden worden waren.
Erneut drückte sie auf den Auslöser.
Ein Klicken, dann drehte sich der Film surrend weiter, und es folgte ein weiterer schmerzhafter Positionswechsel.
Noch eine Aufnahme.