»Also, ich habe so viel geklopft, gehorcht und hineingeschaut, wie ich nur konnte, und ich habe praktisch jeden Zentimeter seiner Lunge abgehört. Jade hat ein paar Röntgenaufnahmen gemacht, die gleich fertig sein müssten. Mit den Blut- und Urinproben dauert es natürlich noch etwas, aber wenn sich nichts Unerwartetes ergibt, sehe ich keinen Grund zur Sorge.«
»Aber gestern ...«
»Gestern nacht hatte er einen Alptraum, und Menschen, die schlecht träumen, machen oft die seltsamsten Geräusche«, fiel Jameson ihr ins Wort. Die Tür des Untersuchungszimmers öffnete sich, und Jade kam mit einem großen Röntgenbild herein, das sie an eine Lichtbox an der Wand heftete. »Warum schauen wir uns das nicht mal gemeinsam an?« schlug der Arzt vor.
Soweit Katharine sehen konnte, unterschieden sich die Aufnahmen von Michaels Lunge nicht von denen, die zuletzt in New York gemacht worden waren. »Wenn man seine Asthmageschichte bedenkt, ist sie in bemerkenswert gutem Zustand«, sagte Jameson. »Und auch sein Lungenvolumen gibt keinerlei Anlaß zur Sorge, auch wenn es noch etwas größer sein könnte. Alles in allem ist sein Gesundheitszustand sehr gut.«
Katharine atmete erleichtert auf.
»Kann ich dann jetzt zur Schule?« fragte Michael.
»Ich habe nichts dagegen.«
»Und meine Mutter kann aufhören, sich jeden zweiten Tag um mich Sorgen zu machen?«
Jameson lächelte. »Ich bin nur der Arzt«, sagte er. »Es gibt Dinge, auf die ich keinen Einfluss habe.«
Katharine erhob sich. »Vielleicht habe ich letzte Nacht einfach überreagiert«, sagte sie und reichte dem Arzt die Hand. »Ich danke Ihnen aber vielmals, Dr. Jameson.«
Jameson breitete die Arme aus. »Freut mich, wenn ich Ihnen helfen konnte. Und rufen Sie mich jederzeit an, wenn irgend etwas ist.« Er brachte sie zur Tür seines Büros, verabschiedete sie freundlich, ging wieder zu seinem Schreibtisch und nahm den Telefonhörer in die Hand.
»Ich habe den Jungen untersucht«, sagte er, als sich jemand am anderen Ende der Leitung meldete. »Wie es aussieht, ist auch er auf irgendeine Weise mit dem Projekt in Berührung gekommen.«
»Wie ist das möglich?« fragte Takeo Yoshihara ungehalten.
»Da ich nicht für die Sicherheit zuständig bin, kann ich diese Frage leider nicht beantworten«, entgegnete Jameson. »Jedenfalls scheint es passiert zu sein.«
Takeo Yoshihara schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Bis auf weiteres unternehmen wir nichts. Wir beobachten ihn wie die anderen. Wir stehen viel zu dicht vor einem Erfolg, um irgendwelche Risiken einzugehen. Aber wenn es nötig wird«, schloß er, »müssen wir ihn uns vom Hals schaffen.«
KAPITEL 18
»Und du bist wirklich ganz sicher, dass es dir gutgeht?« fragte Katharine noch einmal, als sie den Explorer auf dem Parkplatz vor der Schule stoppte. Auch wenn der Arzt ihr versichert hatte, dass mit Michael alles in Ordnung sei, konnte sie immer noch nicht glauben, dass dieses schreckliche Röcheln ihres Sohnes gestern nacht nur auf einen bösen Traum zurückzuführen war.
»Mir geht es gut«, wiederholte Michael zum ungefähr viertenmal, seit sie das Anwesen verlassen hatten. Er nahm seine Schultasche vom Rücksitz, stieg aus dem Wagen und schlug die Tür zu. Dann öffnete er sie noch einmal und beugte sich zu Katharine herab. »Das mit gestern tut mir wirklich leid, Mom. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst. Es wird nie wieder vorkommen. Aber du musst auch aufhören, dich vierundzwanzig Stunden am Tag um mich zu ängstigen. Mit mir ist alles in Ordnung.«
Katharine seufzte und streckte sich auf dem Fahrersitz aus. Sie fühlte sich erschöpft, und ihr Körper schmerzte überall, als hätte sie schon den ganzen Tag über dem Skelett gehockt und den Job nicht erst noch vor sich. »Ich werde es versuchen«, versprach sie. Noch bevor sie etwas hinzufügen konnte, hatte Michael auf seine Uhr gesehen, ihr kurz zugewunken und sich auf den Weg zum Schulgebäude gemacht. Sie sah ihm nach, bis er darin verschwunden war. Noch immer wurde sie das Gefühl nicht los, dass er, trotz all seiner Beteuerungen, irgend etwas verschwieg. Aber als sie vom Parkplatz fuhr, kam ihr der Gedanke, dass vielleicht gar nicht Michael das Problem war.
Vielleicht war sie selbst das Problem.
Sie hatte gestern nacht kaum zwei Stunden geschlafen und fühlte sich todmüde. Dabei hatte sie noch einen ganzen Arbeitstag vor sich, an dem es galt, das Skelett von der Fundstelle in Robs Büro zu transportieren. Aber schon der bloße Gedanke, stundenlang über den Knochen zu hocken und sie aus ihrem flachen Grab zu befreien, machte sie noch müder. Schließlich nahm sie ihr Handy aus der Tasche und rief Rob an. »Ich schlage dir ein Geschäft vor«, sagte sie. »Wenn du das Skelett ohne meine Hilfe transportieren kannst, lade ich dich heute abend zum Essen ein. Ich glaube, ich werde langsam zu alt, um die ganze Nacht aufzubleiben und danach den ganzen Tag auszugraben.«
»Kein Problem«, sagte Rob. »Geh ruhig nach Hause. Bis zum Nachmittag haben wir alles in Sicherheit gebracht. Bis nachher.«
Katharine legte das Telefon wieder in die Tasche. Auf dem Heimweg fiel ihr ein, dass sie im Kühlschrank nur noch einen Liter Milch, ein paar Eier und einen Sechserpack Cola hatte. Seufzend bog sie nach einem halben Kilometer rechts ab und fuhr zum Markt in Kula, während sie überlegte, ob Rob wohl lieber Steak oder Huhn aß.
Eine halbe Stunde später, als sie ihren Einkaufswagen durch den Supermarkt schob, hörte sie ihren Namen und sah sich überrascht um. Der Mann, der ihr zulächelte, kam ihr bekannt vor, aber sie wusste nicht genau, woher.
»Phil Howell«, half er nach. »Der Astronom, Freund von Rob Silver.«
»Aber ja«, seufzte Katharine. »Tut mir leid, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Und das werde ich gleich nachholen, wenn ich nach Hause komme.«
»Sie Glückliche«, sagte Howell. »Ich bin die ganze Nacht auf dem Berg gewesen, und jetzt stehen mir noch fünf Stunden Arbeit an dem Supercomputer in Kihei bevor.«
Katharine horchte auf. »Kihei? Ist das nicht unten am Meer auf der anderen Seite der Insel? Ich dachte, der Computer wäre auch auf dem Gipfel.«
»Ich wünschte, er wäre es«, seufzte Howell. »Aber unsere Leute nutzen ihn nur zu einem kleinen Teil. Eigentlich benutzen ihn alle: Schulkinder, Geschäftsleute, egal wer. Es ist ein unglaubliches Gerät - man kann alles damit machen, wenn man weiß, wie.«
Katharine dachte an das Bild, das sie auf dem Monitor in Robs Büro gesehen hatte: den Schädel und das seltsame Video, zu dem von dort ein Link geführt hatte. Beides war auf geheimnisvolle Weise verschwunden, und Rob hatte es nicht geschafft, die Dateien zu rekonstruieren. Katharine hatte eine Idee. »Wie gut können Sie denn mit diesem Computer umgehen?«
»Besser, als gut für mich ist«, entgegnete Phil Howell trocken. »Ich verbringe mehr Zeit am Computer als an meinen Teleskopen. Was wollen Sie wissen?«
Katharine erzählte ihm von der verschwundenen Datei. »Gibt es irgendeine Möglichkeit herauszufinden, woher diese Bilder kamen?« fragte sie.
Howell überlegte kurz. »Ich bin nicht sicher. Aber eigentlich wird praktisch alles, was irgendwie durchs Netz geht, in einem Cache gespeichert. Wenn wir die richtige Liste finden ...«
Katharinas Müdigkeit verflog immer mehr. Wenn Phil Howell diese Datei wiederfinden konnte - oder zumindest die Adresse -, dann hatte sie vielleicht doch noch eine Chance, mehr über den seltsamen Schädel in der Schlucht herauszufinden. »Könnten wir das jetzt gleich versuchen?«
»Wenn wir es nicht gleich versuchen, haben wir wahrscheinlich gar keine Chance, es zu finden«, meinte Phil. »Die Caches werden alle nach einer bestimmten Zeit geleert, viele davon sicher schon nach vierundzwanzig Stunden. Vielleicht aber auch schon früher.«
»Dann nichts wie los«, sagte Katharine, verzichtete auf weitere Einkäufe und ging sofort zur Kasse.