Instinktiv trat Josh einen Schritt zurück und starrte das Durcheinander aus den verschiedensten Behältern an. Er griff nach einer Flasche mit Ammoniak und hielt sie vorsichtig an die Nase.
Als er die Dämpfe durch die Nase einatmete, spürte er einen sofortigen Energieschub, als hätte man Adrenalin in seinen Blutkreislauf gepumpt.
Er atmete wieder ein, und ein fast elektrisches Kitzeln lief durch seinen Körper.
Als kurz darauf Michael mit dem Spray herbeigelaufen kam, bot sich ihm ein völlig verändertes Bild.
Josh Malani sah wieder völlig gesund aus, seine Augen glänzten, und er schien auch wieder vollkommen normal zu atmen.
Doch dann sah Michael, dass Josh eine Ammoniakflasche an seine Nase hielt und die Dämpfe in seine Lunge sog. »Um Gottes willen, Josh, was machst du da?« schrie Michael und riß ihm die Flasche aus der Hand. »Was ist hier los?«
»Gib sie mir wieder!« forderte Josh. »Ich hab' nur dran gerochen.«
»Bist du verrückt? Das Zeug ist giftig. Es bringt dich um.«
Josh griff nach der Flasche. »Los, her damit!«
Michael schob Josh beiseite und schlug die Schranktür zu. Dann lehnte er sich mit der Ammoniakflasche in der Hand dagegen. Josh sah ihn düster an, und einen Augenblick fürchtete Michael, er würde sich auf ihn stürzen. Aber dann schüttelte Josh den Kopf. »Zur Hölle mit dir«, murmelte er. Er drehte sich um und stapfte aus dem Raum. Michael schloß die Flasche weg und ging hinter ihm her. Josh zog sich an.
»Hör zu, Josh«, sagte er. »Ich will dir doch nur helfen.«
Josh würdigte ihn kaum eines Blickes. »Ich brauche deine Hilfe nicht. Ich brauche überhaupt keine Hilfe, von niemandem.« Er schob Michael beiseite und eilte aus den Umkleideräumen hinaus und zum Parkplatz. Er stieg bereits in seinen Truck ein, als Michael ihn eingeholt hatte.
»Ich komme mit dir«, sagte Michael und ging auf die Beifahrerseite.
»Den Teufel wirst du tun.« Josh startete, legte den ersten Gang ein und fuhr mit quietschenden Reifen vom Parkplatz.
Michael stand in einer Staubwolke und sah seinem Freund hinterher. Tränen schossen ihm in die Augen, und in seinem Magen spürte er einen Knoten aus Wut und Angst, so fest, als könne er ihn nie mehr entwirren. Er wird darüber hinwegkommen, sagte er sich schließlich, drehte sich um und ging wieder zu den Umkleideräumen. Spätestens wenn die Schule aus ist, wird er sich wieder beruhigen. Es wird schon werden.
Aber noch während er das dachte, wusste er, dass er nicht daran glaubte.
KAPITEL 20
Als Josh Malani mit seinem Pick-up vom Schulparkplatz brauste, hatte er keine Ahnung, wohin er fahren sollte. Er wusste nur eins - er musste fort.
Das angenehme Kribbeln, das er im Körper gespürt hatte, als er das Ammoniak eingeatmet hatte, ließ bereits nach, aber damit auch die Wut, die in ihm hochgekocht war, als Michael ihm die Flasche weggenommen hatte.
Was, zum Teufel, war nur in ihn gefahren, Michael so anzubrüllen? Michael war sein bester Freund!
Michael hatte ihm das Leben gerettet.
Michael hatte nur versucht, ihm zu helfen.
Und was hatte er getan? Er war durchgedreht und abgehauen.
Toll!
Und was jetzt?
Nach Hause konnte er nicht - auf keinen Fall vor fünf Uhr. Dann kam seine Mom von der Arbeit, und er musste nicht mit seinem Vater allein sein.
Vielleicht würde er einfach ein paar Stunden am Strand verbringen. Nach dem Schwimmen fühlte er sich immer besser, und dann würde er kurz vor Schulschluß zurückfahren und Mike suchen.
Er würde sich entschuldigen, und dann würden sie gemeinsam überlegen, was sie wegen Jeff unternehmen sollten. Vielleicht hatte Mike recht - vielleicht sollten sie der Polizei wirklich sagen, wo sie in der Nacht von Kiokis Tod gewesen waren.
Als Josh durch die Talsohle zwischen Haleakala und den Bergen von West-Maui fuhr, meldete sich der seltsame Schmerz in seiner Brust wieder, und als er auf der Windseite, wo sich während der Woche kaum jemand aufhielt, einen Parkplatz suchte, schüttelte ihn ein weiterer Hustenanfall. Atemlos und voller Angst trat er auf das Gaspedal. Er musste zum Strand, wo er die Luft des Passatwindes vom Ozean atmen konnte. Husten und Atemnot quälten ihn so sehr, dass er den Wagen, der ihm in gleichmäßigem Abstand folgte, überhaupt nicht bemerkte.
Das Ammoniak, dachte Josh, Michael hatte recht. Seine Brust tat höllisch weh, und wie sehr er sich auch bemühte, er bekam einfach nicht richtig Luft. Als er den Pick-up in einer Parkbucht hinter dem Strand zum Stehen gebracht hatte, hielt er das Lenkrad mit beiden Händen fest umklammert. Ein brennender Schmerz rollte durch seinen Körper. Er versuchte ruhig zu bleiben.
Seine Knöchel waren von der Anstrengung weiß geworden, und als er hinaus auf die See sah, konnte er kaum den Horizont erkennen.
Alles schien vor seinen Augen zu verschwimmen, und der Himmel verdüsterte sich, obwohl eben noch keine Wolke am Himmel zu sehen gewesen war.
Raus.
Er musste raus aus dem Wagen und zum Strand. Wenn er es bis zum Strand schaffte, würde er wieder atmen können. Er würde sich hinlegen und abwarten, bis dieser seltsame Anfall vorüber war. Bald würde es ihm wieder besser gehen. Er tastete nach dem Türgriff, fand ihn und stieg schwankend aus dem Wagen. Doch als er den Boden berührte, gaben seine Beine nach, und er stürzte der Länge nach in den Staub.
Er keuchte und rang um Atem, obwohl es schien, als würde seine Lunge bei jedem Atemholen mit einer Fackel versengt.
Musste er sterben?
Bestimmt.
Die Dunkelheit nahm zu und umschloß ihn, die Schmerzen wurden immer schlimmer, bis er überhaupt nicht mehr atmen konnte.
Er streckte die Arme aus, um sich an irgend etwas - egal, an was - festzuhalten, als könne er so das schreckliche Gefühl ersticken zu müssen besiegen.
Er versuchte zu schreien, um Hilfe zu rufen, brachte jedoch nur ein heiseres Stöhnen hervor.
Und als die Dunkelheit ihn ganz umgeben hatte und die letzten Kräfte ihn verließen, spürte er plötzlich etwas anderes.
Ihm war, als würde er hochgehoben.
Hochgehoben und davongetragen.
Während seine gequälte Lunge immer noch um Atem rang, ergab sich Josh der Dunkelheit.
»Mein Jeff ist ein guter Junge«, wiederholte Uilani Kina. »Mein Jeff würde nicht einfach so weglaufen. Ihm muss irgend etwas zugestoßen sein.«
Cal Olani nickte verständnisvoll, aber die Geste war nicht ganz aufrichtig. In seinen fünfzehn Dienstjahren als Polizist hatte er gelernt, dass es nicht eine Mutter gab, deren Sohn kein »guter Junge« war, egal, was er getan hatte oder wie schwer die Beweise wogen.
»Mein Sohn ist ein guter Junge«, sagte Mrs. Kina noch einmal.
Er musste allerdings zugeben, dass in dem ordentlichen Haushalt, den Uilani Kina führte, nichts darauf hindeutete, dass ihr Sohn auf die schiefe Bahn geraten war. Das Haus lag in einer Seitenstraße oberhalb von Makawao, umgeben von einem gepflegten Garten. Der Rasen war gemäht, und in einer Abzäunung neben dem Haus pickten ein paar Hühner in der Erde herum. Mr. Kina besaß in Makawao einen kleinen Laden für Gartengeräte, in dem Jeff nach der Schule arbeitete, wenn er nicht für das Laufteam trainierte. Abgesehen von ein, zwei Zwischenfällen, bei denen er ein paar haoles Prügel angedroht hatte - ohne seine Drohungen je wahrgemacht zu haben -, hatte es nie Ärger mit Jeff gegeben. Aber er war in dem Alter, in dem Jungen gerne zeigen, dass sie keine Kinder mehr sind, und Cal hätte Uilani Kina recht überzeugend versichert, dass ihr Sohn sicher bald auftauchen würde, wenn man gestern nicht Kioki Santoyas Leiche gefunden hätte. Er konnte das Verschwinden des Jungen also keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen. »Ich werde heute nachmittag eine offizielle Suchanzeige aufgeben«, versprach er, wobei er wusste, dass sich die Nachricht von Jeffs Verschwinden schon längst über die ganze Insel verbreitet hatte. Er klappte sein Notizbuch zu und steckte es in die Innentasche seiner Uniformjacke. »Versuchen Sie ganz ruhig zu bleiben, Mrs. Kina«, sagte er freundlich.