Wenn Alkohol und Tabak für Mißbildungen bei Föten verantwortlich waren, was konnten dann die Gase aus einem aktiven Vulkan anrichten? Katharine betrachtete das Skelett, aber sie dachte nicht an die Feuerstelle, neben der es begraben gewesen war, sondern an den Schwefelschacht etwas weiter die Felsspalte hinauf. Was, wenn die Überreste, die sie ausgegraben hatte, von jemandem stammten, der nur wenige Monate nach einem Ausbruch des Haleakala geboren worden war?
Sie wusste nun, dass sie das Alter der Knochen auf jeden Fall ganz genau bestimmen und mit einer der letzten Eruptionen auf Maui in Verbindung bringen musste.
Oder auf der Großen Insel, wo sich noch heute neue Eruptionskanäle öffneten und Gase aus den Eingeweiden des Planeten freigesetzt wurden.
Sie arbeitete noch drei Stunden, stellte Knochenproben zusammen und suchte im Internet nach Labors, welche die Analyse möglichst schnell und effizient durchführen konnten.
Dann spürte sie ihre Erschöpfung. Ihre Glieder taten weh, und ihre Gedanken verschwammen zu einem Nebel.
Sie hatte Michael versprochen, viel früher zurück zu sein.
Ohne aufzuräumen, verließ Katharine ihren Arbeitsplatz. Sie schaltete lediglich das Licht aus und wollte gerade die Tür abschließen, als das gleißende Licht von Autoscheinwerfern am Fenster vorbeiglitt. Im Dunkeln trat sie ans Fenster und sah hinaus.
Michael saß vor dem Fernseher und versuchte sich auf die Handlung des Films zu konzentrieren, doch immer wieder wanderten seine Gedanken in eine andere Richtung.
Er musste wieder und wieder an Josh denken, der sich auf der Toilette die Flasche mit Ammoniak ans Gesicht gehalten und die Dämpfe tief eingeatmet hatte. Und der wütend geworden war, als er ihm die Flasche weggenommen hatte.
Und er erinnerte sich an Joshs Blick, kurz bevor sein Freund aus dem Raum gerannt war. Eine Sekunde lang hatte Michael ihn nicht mehr wiedererkannt. Der Josh, den er kannte, war irgendwie verschwunden gewesen, und an seine Stelle war etwas anderes getreten ...
Ein wildes Tier.
Der Gedanke kam, ohne dass Michael ihn bewusst formulierte, aber je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass Josh tatsächlich so ausgesehen hatte: wie ein gefangenes Tier, das verzweifelt zu fliehen versucht.
Er erinnerte sich, dass er eine Sekunde lang gefürchtet hatte, Josh würde ihn angreifen und versuchen, die Flasche zurückzubekommen, die Michael ihm entrissen hatte.
Nach der Schule hatte Michael so lange wie möglich gewartet, in der Hoffnung, Josh würde wieder auftauchen, aber als der Schulbus schließlich zur Abfahrt bereit war, musste er einsteigen. Auf dem Heimweg hatte er immer wieder nach hinten geschaut. Vielleicht tauchte Josh doch noch auf, vielleicht überholte er den Bus mit wildem Gehupe und wartete dann an der nächsten Haltestelle auf ihn. Aber insgeheim wusste er, dass Joshs Pick-up nicht auftauchen würde. Seinem Freund war irgend etwas Schreckliches zugestoßen.
Sollte er die Polizei anrufen?
Aber was sollte er ihnen erzählen?
Sollte er die seltsame Geschichte wiedergeben, die Josh ihm erzählt hatte, von dem Feuer auf dem Zuckerrohrfeld, von Jeffs verrücktem Benehmen, von Joshs Flucht? Damit würde er Josh nur noch mehr Ärger machen. Und wenn Jeff Kina irgend etwas in dem Feld passiert wäre, dann hätte man doch bestimmt schon davon gehört. Immerhin hatte er in der Schule die Namen von zwei Männern gehört, die in dem Feuer gestorben waren - Feuerwehrmänner, die beim Einsatz auf tragische Weise ums Leben gekommen waren. Einer davon war der Onkel eines Mitglieds des Laufteams. Aber von Jeff Kina hatte niemand gehört.
Zu Hause angekommen, hatte er bei Josh angerufen, aber ein betrunkener Sam Malani hatte den Hörer abgenommen und krakeelt, dass er seinen Sohn schon zur Räson bringen werde, wenn der endlich nach Hause käme.
Michael hatte nicht wieder angerufen.
Dann, vor einer Stunde, hatte er wieder dieses komische Gefühl gespürt. Es war nicht so schlimm gewesen - nicht halb so schlimm wie damals, als er Asthma hatte -, aber beinahe hätte er seine Mutter angerufen. Er tat es dann doch nicht. Wenn sie ihn nicht gleich ins Krankenhaus brachte - »Vorsicht ist besser als Nachsicht« -, würde sie ihn spätestens morgen früh wieder zu Dr. Jameson schleppen.
Es war besser, wenn er schwieg. Morgen würde es ihm sicher wieder gutgehen.
Er drückte sich tiefer in das Sofa und versuchte sich wieder auf den Film zu konzentrieren.
Denk nicht mehr dran, sagte er sich, denk einfach nicht mehr dran. Mit deiner Lunge ist alles in Ordnung. Josh ist einfach nur sauer, und Jeff Kina hast du ja kaum gekannt.
Aber wie sehr er sich auch einzureden versuchte, dass alles in Ordnung sei, er musste doch immer an das eine Geschehnis denken, das diesem Gedanken so schrecklich widersprach:
Vorgestern nacht war Kioki Santoya gestorben.
Was, wenn auch Jeff und Josh tot waren?
Was dann?
Auf diese Frage wusste er keine Antwort.
Als sich Katharines Augen an die gedämpften Lichter gewöhnt hatten, die nachts Takeo Yoshiharas Anwesen matt beleuchteten, hielt das Fahrzeug soeben vor einer Tür am anderen Gebäudeflügel. Katharine sah, wie der Wachmann, der sonst immer hinter seinem Tisch in der Lobby saß, aus dem Gebäude trat und schnell auf das Fahrzeug zuging, das Katharine mittlerweile als kleinen Lieferwagen identifiziert hatte. Zwei Männer stiegen aus, ein weiterer kam aus dem Gebäude. Zu viert luden sie eine Kiste aus dem Heck des Lieferwagens aus.
Eine Kiste von etwa einem Meter Breite, einem Meter Höhe und zwei Metern Länge.
Unwillkürlich musste Katharine an einen Sarg denken, und auch wenn sie den Gedanken sofort verwarf, ließ er sich doch nicht so leicht abschütteln. In dem Raum neben ihr lag ein Skelett.
Das Skelett eines Wesens, das wie ein Mensch begraben worden war, auch wenn es nicht zur Gattung Homo sapiens gehörte.
Katharine ging den langen Flur von ihrem Büro zur Lobby entlang. Dann zögerte sie.
Was sollte sie tun? Die Tatsache, dass dieser Lieferwagen mitten in der Nacht vorfuhr, ließ darauf schließen, dass man es nicht sehr schätzen würde, wenn sie jetzt einfach hinausging und den Männern einen guten Abend wünschte.
Sie ging langsam zum Tisch des Wachmanns, der wie ein großer hölzerner Quader aussah und bis auf zwei Videomonitore völlig leer war. Vorsichtig umkreiste Katharine den Schreibtisch und glitt schließlich auf den Drehstuhl, der dahinter stand. Sie sah auf die Monitore.
Der linke zeigte das Haupttor des Anwesens. Katharine konnte sich nicht an irgendwelche Scheinwerfer erinnern, dennoch wirkte das Bild auf dem Monitor so hell, als sei es Tag.
Offenbar waren die Sicherheitskameras mit einer lichtverstärkenden Vorrichtung ausgestattet. Die Dunkelheit, in der das Tor lag, täuschte.
Auf dem anderen Bildschirm sah man nur eine Reihe grafisch dargestellter Knöpfe, von denen einige beschriftet waren, andere lediglich Symbole enthielten, und die anzeigten, wie man die Kameras bedienen konnte. Katharine berührte das Lupensymbol.
Sofort vergrößerte sich das Bild auf dem anderen Monitor, und die Kamera zoomte näher an das Haupttor heran.
Unter den beschrifteten Knöpfen wählte Katharine denjenigen aus, auf dem »Nordflügel« stand.
Die Knöpfe verschwanden, bis auf die, mit deren Hilfe die Kameras manipuliert wurden, und an ihrer Stelle tauchte ein Plan des Nordflügels auf. Katharine wählte den Raum, vor dem, wie sie glaubte, der Lieferwagen parkte, und berührte den Bildschirm.
Das Display reagierte sofort und zeigte ihr das Innere von Stephen Jamesons Büro.
Seines leeren Büros.
Sie berührte das Bild des Raums zwei Türen weiter und sah nun die beiden Männer aus dem Lieferwagen und die beiden Wachmänner auf dem Bildschirm. Sie stellten den Kasten auf einer Art Trage ab. Die beiden Wachmänner schoben nun die sargähnliche Kiste durch das Büro auf den Flur. Katharine schaltete auf eine Ansicht des Nordflurs um und erstarrte, als sie sah, dass die beiden Männer, der eine am vorderen, der andere am hinteren Teil des Sarges, direkt auf sie zukamen. Eine Sekunde später blickte der Wachmann, der sonst immer auf dem Stuhl saß, von dem Katharine aus nun die Monitore beobachtete, direkt in die Kamera, und Katharine beschlich das beklemmende Gefühl, dass er sie genauso deutlich sehen konnte wie sie ihn. Ihr Herz begann zu pochen, und sie musste dem Drang widerstehen, in die entgegengesetzte Richtung davonzulaufen, zurück in Robs Büro. Aber dann verschwanden die Männer und ihre Kiste - sie gingen nicht durch die Doppeltüren am Ende der Lobby -, und ihr wurde klar, dass sie keineswegs auf sie zugekommen waren. Sie bewegten sich genau in Gegenrichtung.