Aber wohin gingen sie?
Sie untersuchte den Kontrollmonitor und entdeckte einen Knopf mit der Aufschrift »UE«.
Untere Ebene? Was sonst. Dr. Jameson hatte am Morgen doch auch davon gesprochen, dass er »unten« noch etwas erledigen musste.
Sie berührte den Knopf, aber anscheinend ohne Resultat.
Auf dem rechten Bildschirm waren noch immer der Plan und die Kontrollknöpfe zu sehen, auf dem linken der jetzt leere Flur.
Doch Katharine war sicher, dass beide Bildschirme leicht geflackert hatten, als sie die Knöpfe berührt hatte. Als sie den Bildschirm näher untersuchte, fiel ihr auf, dass sich eines doch geändert hatte: Wo eben UE gestanden hatte, stand nun UE1.
Es gab also noch ein Stockwerk unter UE.
Wie um diesen Gedanken zu bestätigen, tauchten auf dem linken Bildschirm wieder die Wachmänner auf. Jetzt bewegten sie sich von der Kamera weg. Auf der Hälfte des Flurs öffnete sich eine Tür, und die beiden Männer schoben die Kiste hindurch. Wieder drückte Katharine einmal falsch, bevor sie den richtigen Raum fand, und wieder änderte sich das Bild auf dem Kameramonitor.
Offensichtlich handelte es sich um eine Art Labor.
Katharine beobachtete, wie zwei Männer in weißen Kitteln den Deckel der Kiste aufschraubten. Katharine betätigte einen der Knöpfe, welche die Kameras regulierten, und zoomte auf die Kiste. Als der Deckel hochgehoben wurde, stiegen aus dem Behälter Nebelwolken auf.
Trockeneis?
In der Kiste selbst war etwas in Plastik eingewickelt, was auch immer es sein mochte. Sie sah, wie vier Hände in Gummihandschuhen das Plastik entfernten.
Die Wachmänner sah sie nicht mehr.
Sie zog die Kamera auf den weitesten Winkel.
Sie waren verschwunden.
Katharine berührte erneut den Bildschirm und fand sie.
Sie kamen durch den Flur auf sie zu.
Nein, sie gingen in die andere Richtung, wahrscheinlich zum Fahrstuhl. Wie lange würde es dauern, bis sie wieder in diesem Stockwerk waren und in die Lobby zurückkehrten?
Eine Minute, zwei?
Mehr sicherlich nicht.
Sie berührte den Schirm und hatte wieder die Assistenten im Bild. Sie hatten die äußere Plastikhülle auseinandergewickelt und entfernten nun das Trockeneis, in dem der eigentliche Inhalt der Kiste steckte. Katharine hätte ihnen am liebsten zugerufen, sich zu beeilen, schneller zu arbeiten und die zweite Plastikhülle endlich zu entfernen, damit sie sah, was darunter lag. Sie bebte vor Ungeduld.
Mit zitterndem Finger schaltete sie wieder auf den Flur. Die Wachmänner warteten noch immer auf den Fahrstuhl. Gerade als sie ins Labor zurückschalten wollte, verschwanden die Männer aus dem Blickwinkel der Kamera.
Sie hatten den Fahrstuhl betreten und kamen hinauf.
Wie schnell, wusste sie nicht.
Sie schaltete zum Labor zurück. Endlich schienen die beiden Sanitäter mit dem Trockeneis fertig zu sein. Unbewusst den Atem anhaltend, blickte Katharine in die Kiste. Einer der Männer griff nach dem fast durchsichtigen Plastik, das einzige, was Katharine noch davon trennte, einen Blick auf die geheimnisvolle Ladung zu werfen, die mitten in der Nacht angeliefert worden war. Plötzlich hätte sie vor Frust fast aufgeschrien. Der Mann verschwand plötzlich aus dem Bild.
Der Zoom!
Mit zitternden Händen berührte sie die Abstimmungsknöpfe für die Kameras. Sie zoomten wieder heran, und das Bild wurde etwas schärfer. Doch dann beugte sich einer der Männer vor und versperrte ihr gänzlich die Sicht auf die Kiste. Aber kurz zuvor glaubte sie etwas gesehen zu haben.
Ein Gesicht.
Ein menschliches Gesicht?
Das zerknitterte Plastik hatte es zu sehr verzerrt, und sie hatte nur allzu kurz darauf blicken können.
Wieviel Zeit blieb ihr noch? Wenn sie wenigstens noch einen Blick auf die Kiste werfen könnte ...
Sie berührte den UE-Knopf und schaltete dann auf den Flur.
Die Wachen näherten sich bereits der Lobby.
Mit laut klopfendem Herz sprang Katharine auf und lief auf die Doppeltüren zu, die in den Südflur und schließlich in ihr Büro führten.
Der Bildschirm! Sobald die Wachen ihn sahen, würden sie wissen, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht hatte. Sie drehte sich um und wäre in ihrer Hast, zu dem Schreibtisch zurückzukommen, fast gestolpert. Sie suchte den Bildschirm ab, bis sie den Knopf mit der Aufschrift »Zentral« fand. Sie drückte darauf, und augenblicklich erschien wieder das Menü, das sie vorgefunden hatte, als sie sich vor weniger als fünf Minuten an den Schreibtisch gesetzt hatte.
Das Tor!
Wo war der Knopf für das Tor?
Da, ganz unten, rechts.
Sie tippte mit dem Finger darauf, wartete noch ab, bis sich das Bild auf dem Monitor auch wirklich geändert hatte, und rannte dann durch die Lobby. Sie stieß die Doppeltüren auf, hielt sie hinter sich fest, damit sie nicht hin und her schwangen und lief dann den Flur hinunter zu ihrem Büro. Sie schloß auf, ging hinein und schaltete wieder das Licht an.
Nach Luft schnappend lehnte sie an ihrem Schreibtisch und wartete, bis sich Herz- und Pulsschlag beruhigt hatten. Dann nahm sie ihre Handtasche, schaltete das Licht aus, verließ ihr Büro zum zweitenmal innerhalb von zehn Minuten, schloß ab und ging abermals auf die Doppeltüren zu.
Einen Augenblick lang hatte sie das schreckliche Gefühl, dass die Wachen alles wussten und lächelnd auf sie warteten. Wenn sie ihr Fragen stellten, was sollte sie antworten? Dass sie sich Sorgen gemacht habe, weil der Wachmann nicht an seinem Schreibtisch gewesen sei?
Würden sie ihr das abkaufen?
Sie stieß die Türen auf und betrat die Lobby. Zu ihrer Erleichterung warteten die beiden Wachmänner nicht auf sie. Der, dessen Posten der Schreibtisch war, saß auf seinem Stuhl und blätterte in einem Magazin. Als er Katharine sah, schaute er auf.
»Dr. Sundquist, ich dachte, Sie wären schon gegangen.«
Klang seine Stimme mißtrauisch? »Ich musste noch was fertig machen«, entgegnete sie. Als sie die Lobby halb durchquert hatte, kam ihr plötzlich der Gedanke, wie sie jedes Mißtrauen ersticken konnte. »Was war das für ein Lieferwagen, der da vorhin gekommen ist?« fragte sie und drehte sich noch einmal um. »Ist es nicht furchtbar spät für eine Lieferung?«
Der Wachmann lächelte. »Das war einer von unseren Trucks. Der Fahrer hat hier nur gehalten, um uns zu fragen, wo er parken soll.«
»Nun, gut zu wissen, dass wir nicht die einzigen sind, die so spät noch arbeiten müssen«, sagte Katharine und erwiderte das Lächeln des Wachmanns. »Aber müde bin ich deshalb trotzdem.«
Der Mann lachte. »Ja, mich macht es auch nicht munterer, andere arbeiten zu sehen.«
Katharine sagte gute Nacht, verließ das Gebäude und ging schnell zu ihrem Wagen.
Der Mann hatte gelogen.
Offensichtlich sollte sie nicht erfahren, was hier vor sich ging. Aber was ging hier vor?
Und wie konnte sie es herausfinden?
Stand die Leiche - wenn es denn eine war -, die heute nacht angeliefert worden war, in irgendeiner Verbindung zu dem verstörenden Video und dem Skelett in ihrem Labor? Eine solche Verbindung herzustellen war doch lächerlich.
Aber sie hatte das Bild des anomalen Schädels von den Philippinen und die Bilder des ermordeten Wesens nicht vergessen. Ein Bild und ein Video, die hinter einem Paßwort in Dateien versteckt wurden, so wie das, was heute abend geliefert worden war, in einem Keller versteckt wurde, von dem sie bis eben nicht einmal gewusst hatte, dass es ihn gab.