Ihr Instinkt sagte Katharine, dass all diese Dinge miteinander zu tun hatten:
Die Leiche - wenn es eine war -, die eben geliefert worden war.
Der Mutant - wenn es einer war -, der auf den Philippinen getötet worden war.
Und das Skelett, das sie selbst hier auf Maui ausgegraben hatte.
Aber wie konnte sie herausfinden, worin die Verbindung zwischen alledem bestand? Während sie im Dunkeln auf das Haupttor zufuhr, überlegte sie nicht nur, wie sie sich Zugang zu den versteckten Dateien zu verschaffen vermochte, sondern auch, wie sie sich Zutritt zur unteren Ebene des Nordflügels verschaffen konnte. Sie fuhr langsamer und wartete darauf, dass das Tor sich öffnete. Illusionen machte sie sich keine mehr. Hier wurde alles weitaus strenger bewacht, als Rob Silver angenommen hatte.
Als sie diesmal durch das dunkle Tor fuhr, wusste sie, dass die Wache in der Lobby sie auf dem Monitor wie im hellen Tageslicht sah. Sie fröstelte. Und obwohl sie sich immer wieder sagte, dass es dumm sei, konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, beobachtet zu werden, bis sie die schmale Straße des Anwesens verlassen und den Hana Highway erreicht hatte. Selbst dann konnte sie das Gefühl nicht ganz abschütteln, und auf der Fahrt nach Makawao sah sie immer wieder in den Rückspiegel, um sich davon zu überzeugen, dass niemand sie verfolgte.
Obwohl sie niemanden sah, hatte sie Angst.
Als Katharine nach Hause kam, lief der Fernseher, aber Michael lag schlafend auf dem Sofa, und als sie sich über ihn beugte und ihn auf die Stirn küßte, rührte er sich nicht. Sie ließ ihre Ledertasche neben dem Sofa zu Boden fallen und schaltete den Fernseher aus. Dann ging sie in die Küche. Sie hatte Hunger. Die Überreste einer Pizza, nicht ganz die Hälfte, lagen in einer mittlerweile durchweichten Pappschachtel auf der Theke. Katharine schaufelte zwei Stücke auf einen Teller und stellte ihn in den Mikrowellenherd. Während die Pizza erhitzt wurde, goß sie sich ein Glas Wein ein. Sie nahm den Teller mit ins Wohnzimmer, stellte ihn auf dem Couchtisch ab und wollte sich schon auf den Boden setzen und essen. Doch dann ging sie durch das ganze Haus und schloß alle Fenster und Türen zu. Schließlich zog sie noch die Vorhänge zu.
Bevor sie den letzten schloß, sah sie in die Nacht hinaus. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass jemand sie beobachtete.
Lächerlich, sagte sie zu sich selbst. Dort draußen ist niemand. Dich beobachtet keiner.
Aber es gelang ihr nicht, die Paranoia zu vertreiben, die sie seit dem Verlassen des Forschungspavillons ergriffen hatte. Sie schloß den Vorhang und ging zurück, um die Pizza zu essen, die Michael ihr übrig gelassen hatte.
Gerade hatte sie das erste Stück verspeist, als Michael sich bewegte. Der Rhythmus seines Atems änderte sich, er klang unruhig und angestrengt. Plötzlich fuchtelte er mit Armen und Beinen in der Luft herum. Katharine fuhr zusammen. Sie fürchtete, dass sich die schreckliche Szene von gestern, als er in die Dunkelheit geflohen und erst Stunden später zurückgekommen war, wiederholen könnte. Sie stand auf und kniete sich neben ihn. »Michael«, sagte sie und legte ihm die Hand auf die Brust. »Michael, wach auf! Du hast einen bösen Traum.«
Er stöhnte und versuchte sich abzuwenden, aber sie hielt ihn an der Schulter fest und schüttelte ihn. »Michael! Wach auf!«
Michael zuckte zusammen und richtete sich abrupt auf. Überrascht starrte er sie an.
»Was war los?« fragte Katharine. »Wovon hast du geträumt?«
»Vom Nachttau ...«, begann Michael, unterbrach sich aber sofort.
»Wovon?« Katharine sah ihn streng an. Sie wusste nicht, was er meinte, aber sie würde es erfahren.
Michael wurde rot. Wenn seine Mutter ihn so ansah, hatte es keinen Sinn, sie anzulügen. »Ich war nachttauchen«, sagte er schließlich.
»Nachttauchen?« wiederholte Katharine verständnislos. Als ihr die Bedeutung der Worte klar wurde, weiteten sich ihre Augen. »Du meinst, du bist nachts tauchen gewesen?«
Michael zögerte kurz und nickte dann zerknirscht. »Mit Josh Malani und ein paar anderen Jungen.«
»Welchen anderen?« fragte Katharine.
Michael zögerte erneut. »Jeff Kina und Kioki Santoya. Und Rick Pieper.«
Katharine glaubte, die beiden ersten Namen schon einmal gehört zu haben. Aber noch bevor sie danach fragen konnte, gab Michael die Antwort.
»Kioki ist der Junge, den seine Mutter gestern morgen im Zuckerrohrfeld fand.«
Katharine erinnerte sich, dass sie im Radio davon gehört hatte. »Und in der Nacht davor warst du tauchen?« fragte sie. »Als du so spät nach Hause gekommen bist?«
Michael nickte.
»Und davon hast du vorgestern geträumt? Und eben?«
Michael nickte erneut.
Katharine sah ihn an. »Ist beim Tauchen irgendwas passiert?« fragte sie.
Michael überlegte, aber dann wurde ihm klar, dass allein sein Zögern ihr bereits sagte, dass es bei dem verbotenen Tauchen einen Zwischenfall gegeben hatte. »Nichts Ernstes«, sagte er. »Die Sauerstoffflaschen waren nicht ganz gefüllt, und deshalb mussten wir früher raus. Keine große Sache, wirklich.«
»Aber du hast deswegen Alpträume«, sagte Katharine. »Und nach dem, was mit Kioki geschehen ist...«
Michael stöhnte auf. »Ach, hör auf, Mom, sie wissen doch noch gar nicht, was Kioki passiert ist.«
Katharine sah ihren Sohn ernst an. Er hatte sie nicht nur angelogen, sondern auch etwas sehr Dummes und Unverantwortliches getan. Eigentlich sollte sie ihm Hausarrest verpassen, dachte sie, ihm sämtliche Strafen aufbrummen, die es gab, damit sie sicher sein konnte, dass er so etwas nie, nie wieder tun würde. Aber nachdem sie letzte Nacht kaum geschlafen hatte, fühlte sie sich einfach nicht in der Lage, das jetzt durchzuziehen. Außerdem war sie erleichtert, dass ihm nichts passiert war. Er lebte, und er war bei ihr. Und vielleicht war es zum Teil auch ihre Schuld, dass er ihr nichts erzählt hatte - schließlich hatte sie ihn jahrelang allzusehr behütet. Wenn Rob Silver sich nicht eingemischt hätte, hätte sie Michael das Tauchen sowieso verboten.
Die Erschöpfung, die sich den Tag über in ihr ausgebreitet hatte, gewann langsam die Oberhand, und sie kam zur der Einsicht, dass diese Sache auch bis morgen warten konnte. »Geh ins Bett«, sagte sie. »Geh ins Bett und schlaf dich aus.« Dann hatte sie eine Idee. »Hör zu, Michael, du bist derjenige, der Mist gebaut hat, und deshalb wirst du dir deine Strafe dafür selbst aussuchen. Ich bin jetzt einfach zu müde und zu zornig, um mich damit zu beschäftigen. Also, laß dir was einfallen.«
Michael sah sie an, und so wie er sie ansah, wusste sie, dass sie eine sehr gute Antwort gefunden hatte; was immer er sich schließlich aufbürden würde, es würde sicherlich alles übertreffen, was sie sich hätte ausdenken können.
»Okay«, sagte er schließlich. »Das ist wohl nur fair.« Er stand auf und hatte fast schon sein Zimmer erreicht, als er noch einmal zurückkam, sich hinabbeugte und ihr einen Kuß auf die Wange gab. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte es nicht machen sollen, und ich hätte es dir sagen müssen.« Er richtete sich wieder auf. »Nacht«, sagte er leise, als er wieder zu seinem Zimmer ging.
»Michael?«
Er drehte sich zu ihr um.
»Sei nicht ganz so streng mit dir. Ein ganzes Jahr Hausarrest wäre wirklich zu viel.«
Als sie ein paar Minuten später ins Bett fiel, fühlte sich Katharine derart erschöpft, dass sie nicht einschlafen konnte. Nach einer Weile stand sie auf und öffnete alle Fenster, um frische Luft ins Haus zu lassen. Aber mittlerweile wehte ein Kona-Wind und brachte den leicht nach Säure riechenden Smog mit sich, der aus dem Vulkan von der Großen Insel kam.