Wie ein Tier, dachte Yoshihara. Wie ein wildes Tier, das Gefahr wittert. Er trat näher an den Kasten, wie man sich im Zoo einem Affenkäfig nähert.
Der Junge sprang ihn mit ausgestreckten Armen an, als wolle er ihn packen und würgen, aber im nächsten Augenblick prallte er gegen die Plexiglaswand und stürzte mit einem Schmerzensschrei zu Boden.
Mittlerweile war auch das andere, kleinere Exemplar aufgewacht und starrte mit vor Wut funkelnden Augen durch das Plastik.
»Und wir wissen immer noch nicht, wie sie mit unserem Experiment in Berührung gekommen sind?« fragte Yoshihara und wandte sich wieder Jameson zu.
»Da sie es sicherlich selbst nicht wissen ...«, begann Jameson, aber Yoshihara unterbrach ihn ein weiteres Mal.
»Es ist mir egal, was sie wissen«, sagte er. »Ich will wissen, wie sie mit unserem Präparat in Verbindung kommen konnten. Finden Sie es heraus. Bis heute abend will ich eine Antwort haben. Ist das klar?«
Stephen Jameson schluckte nervös. Dann nickte er zustimmend. Er wusste, dass ihm gar keine andere Möglichkeit blieb.
»Gut«, sagte Yoshihara leise. Ohne die beiden Jungen in dem Plexiglaskasten eines weiteren Blickes zu würdigen, machte er sich auf den Rückweg. Als er in der Lobby ankam, entschloß er sich, eine Weile im Garten zu verbringen.
Er hatte noch eine Stunde Zeit bis zum Abflug. Abgesehen von dem kleinen Problem mit den Jungen lief alles ausgesprochen gut. Und selbst dieses Problem konnte unter Verschluß gehalten werden.
»Unter Verschluß halten«, sagte er leise vor sich hin. Es wäre besser gewesen, alle Probanden weit weg von Maui unter Verschluß zu halten. So war es ursprünglich auch geplant gewesen, aber da der Fehler nun einmal gemacht worden war - und er würde genau untersuchen, wie es dazu gekommen war -, sah er nicht ein, warum er den Fehler nicht zu seinem eigenen Vorteil nutzen sollte.
Solange sie lebten, waren die beiden jungen Männer dort unten im Labor wertvolle Versuchsobjekte.
Solange sie noch lebten.
Takeo Yoshihara bedeutete das Leben von Jeff Kina und Josh Malani überhaupt nichts. Weitaus wichtiger - das einzige, was zählte - waren die wissenschaftlichen Daten, die ihre Leichen hergeben würden.
KAPITEL 23
Katharine bog gerade vom Hana Highway auf den Fahrweg ab, der zu Yoshiharas Anwesen führte, als sie das unverkennbare satte Geräusch der rotierenden Blätter eines Hubschraubers hörte. Die Maschine selbst konnte sie jedoch nicht sehen, obwohl sie ganz in der Nähe sein musste. Sie bremste ab und schaute zum Himmel hinauf, wobei sie ihre Augen mit der Hand vor der strahlenden Morgensonne schützte.
Wie eine schillernde Libelle tauchte auf einmal der Helikopter auf. Er flog in niedriger Höhe über den Bäumen und schien den Buckeln und Wellen der Landschaft zu folgen. Als er über sie hinwegflog, glaubte Katharine in der Plexiglaskuppel Stephen Jameson und Takeo Yoshihara zu erkennen. Sie sah dem Helikopter nach. Gleich würde er nach links fliegen, in Richtung des Flughafens bei Kahului.
Statt dessen bog er rechts ab und verschwand hinter einem Felsen, der sich fast siebzig Meter vom Boden des Regenwaldes erhob.
Erst als das Geräusch der Rotorblätter verebbte, ließ Katharine den Wagen wieder an und fuhr weiter die schmale Straße entlang. Wie jeden Morgen öffnete sich das Tor, als sie sich näherte, so dass sie fast ohne abzubremsen hineinfahren konnte. Aber an diesem Morgen spürte Katharine, wie sich ihre Nackenhaare sträubten, denn jetzt wusste sie, dass sie von Kameras beobachtet wurde, und während sie über das Gelände fuhr, musste sie sich zwingen, nicht auffällig nach weiteren Kameras Ausschau zu halten. Sie näherte sich dem Forschungspavillon, in dem Robs Büro untergebracht war, als ihr auffiel, dass die meisten Parkplätze dahinter heute leer geblieben waren.
Sie blickte über den vereinsamten Parkplatz, und ein Gedanke nahm langsam Gestalt an. Ein Gedanke, der die düstere Stimmung vertrieb, in die sie geraten war, nachdem sie stundenlang wach gelegen und gegrübelt hatte, wie sie in den Nordflügel gelangen konnte. Letzte Nacht war ihr gar nichts eingefallen. Aber jetzt hatte sich einiges geändert.
Erst der Hubschrauber, nun der fast leere Parkplatz.
Offensichtlich ging hier irgend etwas vor.
Sie beschloß, heute nicht zu ihrer Ausgrabungsstelle in der Schlucht zu gehen, und parkte den Explorer in einer freien Box. Dann betrat sie die Lobby - nicht nach Überwachungskameras suchen! - und ging auf die Tür zu Rob Silvers Büro zu. Plötzlich blieb sie stehen, als sei ihr etwas eingefallen. Sie ging auf den Tisch zu, an dem der Wachmann saß, der sie überrascht ansah. Vielleicht brauchte sie ihn gar nicht allzusehr ausquetschen, vielleicht würde er ihr auch so sagen, was sie wissen wollte. Eine Sekunde später tat er es. »Ich dachte, alle würden zu dem Treffen in Hana fahren«, sagte er.
Sie musste sich Mühe geben, ihre Verblüffung zu verbergen. Hana? Wovon sprach er? Was ging da vor?
»Ich fahre erst heute nachmittag hin«, sagte sie freundlich.
Warum hatte sie gelogen?
Sie wusste es. Die Paranoia, die von ihr Besitz ergriffen hatte, als sie die heimliche Lieferung beobachtet hatte und dann mit dem Gefühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden, nach Hause gefahren war, schlich sich wieder an sie heran und wand sich wie eine Schlange um sie.
Aber sie war ja gekommen, um ihre Idee in die Tat umzusetzen. »Ist Dr. Jameson schon fort?« fragte sie und bemühte sich, ein bißchen aufgeregt zu klingen.
Der Wachmann nickte. »Vor ein paar Minuten mit Mr. Yoshihara im Hubschrauber davongeflogen.«
»O nein«, murmelte Katharine und setzte eine Miene ärgerlicher Enttäuschung auf.
»Was gibt's denn?« fragte der Mann.
Katharine seufzte. »Ach, mein Sohn hat seine Schlüssel verloren, und vielleicht sind sie ihm aus der Tasche gefallen, als Dr. Jameson ihn gestern untersucht hat. Ich wollte Dr. Jameson fragen, ob er sie gefunden hat.« Sie öffnete den Mund, als wolle sie noch etwas hinzufügen, und schloß ihn wieder.
Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Natürlich bin ich jetzt schuld. Teenager!« Sie wandte sich ab, als erwarte sie von dem Wachmann sowieso keine Hilfe. Aber als sie auf die Doppeltür zum Nordflügel zuging, spürte sie förmlich, wie der Mann ihren Köder umkreiste und sich überlegte, ob ein Haken an der Sache war.
»Vielleicht könnte ich Sie kurz in Dr. Jamesons Büro lassen«, schlug er schließlich vor.
Katharine wandte sich um und sah ihn an, als könne sie gar nicht glauben, was er da eben gesagt hatte. »Das kann ich doch nicht von Ihnen verlangen«, flötete sie. Sie hatte ihn am Haken. »Wo er nicht da ist ...«
»Das ist doch gar kein Problem«, sagte der Wachmann. »Ich habe auch einen sechzehnjährigen Sohn. Ich weiß, wie die sein können. Wenn die Schlüssel im Büro sind, haben wir sie ja in ein, zwei Minuten gefunden.«
Sie folgte dem Mann durch den Nordflur. Als sie vor Dr. Jamesons Tür stehenblieben und der Wachmann nach dem passenden Schlüssel suchte, warf Katharine einen Blick zum Fahrstuhl am Ende des Ganges. Das rote Licht an der grauen Platte über dem Rufknopf leuchtete ihr hämisch zu.
»Wo sollen wir anfangen?« fragte der Mann.
Katharine zuckte hilflos mit den Schultern. »Im Untersuchungszimmer, schätze ich. Dort kann er sie doch am ehesten verloren haben, nicht wahr. Warum schauen Sie nicht dort nach, während ich mir den Stuhl ansehe, auf dem er in Dr. Jamesons Büro saß. Es ist ein Ring mit sechs Schlüsseln.« Nachdem sie das Büro betreten hatten, machte sich Katharine auffällig an dem Stuhl zu schaffen, während der Wachmann ins Untersuchungszimmer ging. Als sie allein war, schlich sie zum Aktenschrank und betete, dass er nicht verschlossen war.
Er war unverschlossen. Und da lag auch schon die graue Plastikkarte, nicht einmal unter einem Blatt Papier verborgen. Sie schnappte sich die Karte, schob die Lade lautlos wieder zu und ging zu dem Wachmann im anderen Zimmer. »Nun, auf dem Stuhl waren sie nicht.«