»Ich kann hier auch nichts finden.« Er wandte den Kopf zu einem Schrank mit einem halben Dutzend Schubladen. »Warum schauen Sie nicht mal da rein? Haben Sie in seinem Schreibtisch nachgesehen?«
»Also, wenn hier jemand fremde Schreibtische durchwühlt, dann Sie und nicht ich«, entgegnete Katharine. »Ich bin die Neue hier, vergessen Sie das nicht. Ich habe ja gerade erst die Karte für den Fahrstuhl bekommen, da werde ich nicht gleich anfangen, in anderer Leute Schreibtische zu stöbern.«
Ein paar Minuten später verließen sie, fröhlich miteinander plaudernd, Jamesons Büro.
Der Schlüssel zum Fahrstuhl steckte in Katharines Tasche.
Michaels Schlüssel steckten sicherlich in seiner Tasche. Soweit sie wusste, hatte er noch nie in seinem Leben irgendwelche Schlüssel verloren.
Sie ließ eine halbe Stunde verstreichen, bevor sie sich auf den Weg in den Nordflur machte, nicht ohne in der Lobby ein paar Worte mit ihrem neuen Freund, dem Wachmann, zu wechseln. »Runter geht's in die Salzminen«, sagte sie augenzwinkernd, bevor sie durch die Doppeltüren und zielstrebig auf den Fahrstuhl zuging. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht zurückzuschauen und zu den Sicherheitskameras hochzusehen, die jetzt sicherlich auf sie zielten. Als sie die Karte aus ihrer Tasche nahm und über die graue Sensorenplatte hielt, betete sie, dass das Zittern ihrer Hand nicht auf dem Bildschirm sichtbar war.
Das Licht wurde grün, und die Fahrstuhltüren öffneten sich. Sie betrat die Kabine und drückte den Knopf nach unten. Als der Lift abwärts glitt, versuchte sie sich vorzustellen, wie weit es nach unten ging, aber die Bewegung der Kabine war so gedämpft, dass sie keine Vorstellung davon entwickeln konnte. Als die Türen Sekunden später wieder aufgingen, hätte sie zehn oder auch fünfzig Meter in die Tiefe gefahren sein können.
Oder hundert.
Der Flur lag verlassen vor ihr. Katharine ging ihn so zielstrebig entlang, wie sie den oberen Gang passiert hatte, obwohl sie nicht wusste, wonach sie eigentlich suchen sollte.
Natürlich wollte sie zunächst einmal das Objekt finden, das gestern nacht geliefert worden war. Vor ihrem geistigen Auge tauchte der Plan der unteren Stockwerke auf, wie sie ihn auf dem Sicherheitsmonitor gesehen hatte. Sie versuchte sich zu erinnern, in welchem Raum der sargähnliche Behälter geöffnet worden war.
Dritte Tür rechts, da war sie ziemlich sicher.
Als sie zu der Tür kam, musste sie sich noch einmal zwingen, nicht zu den Kameras über dem Fahrstuhl hinauf zu sehen. Dann drehte sie den Türgriff. Zu ihrer Erleichterung öffnete sich die Tür.
Sie erkannte den Raum wieder, kaum dass sie ihn betreten hatte. Makellos sauber, weiß gefliest. Ein weiß umrandeter metallener Untersuchungstisch stand in der Mitte, an einer Wand eine lange Laborbank, an einer anderen drei Schränke mit großen Schubladen.
Schubladen, die sie schon in vielen Filmen gesehen hatte, in Szenen, die in Leichenhallen spielten.
Katharine nahm ihren Mut zusammen und ging auf die Schubladen zu.
Selbstverständlich irrte sie sich. Hier unten konnte unmöglich eine Leichenhalle sein.
Beunruhigende Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Was, wenn jetzt jemand hereinkam?
Was, wenn die Wachmänner sie beobachteten?
Was, wenn der Raum alarmgesichert war?
Verschwinde hier, flüsterte eine innere Stimme. Verschwinde, geh wieder nach oben und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten. Du sollst dich lediglich um ein Skelett kümmern, ein Skelett, das Rob drei Kilometer von hier entfernt gefunden hat. Was hier geschieht, geht dich gar nichts an.
Verschwinde!
Aber noch während die Stimme ihr diese Warnungen zuflüsterte, zog sie mit zitternden Händen eine Schublade auf.
Leer.
Ihre Anspannung ließ dennoch kaum nach. Sie öffnete eine zweite Schublade.
Auch leer.
Ebenso wie die dritte und die vierte.
Ihr Hände hörten auf zu zittern, und sie kam sich ein bißchen töricht vor. Was immer sie letzte Nacht gesehen hatte, es war wohl doch kein ...
Der Gedanke zerstob, als sie die fünfte Schublade öffnete und in das Gesicht eines Jungen starrte.
Eines Jungen mit klaren Zügen, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt, mit blondem Haar und einem Grübchen am Kinn.
Und mit toten blauen Augen, die sie regungslos anstarrten. Sie lagen tief in ihren Höhlen, in einem ausdruckslosem Gesicht.
Katharine stand wie angewurzelt da und kämpfte gegen die Übelkeit, die in ihr aufstieg. Zeig keine Regung, sagte sie zu sich. Wenn sie dich beobachten, darfst du keine Regung zeigen. Tu so, als gehörtest du hierher.
Sie zog die Schublade ganz heraus und blickte in den Torso des Jungen, der durch einen großen Y-förmigen Schnitt geöffnet worden war. Seine Organe schienen intakt, bis auf die Lunge, die vollständig entfernt worden war.
Seine Lunge?
Plötzlich fiel ihr der Text der einzigen Serinus-Datei, die sie hatte lesen können, wieder ein.
Luftverschmutzung? Konnte es sein, dass dieser Junge an einer Vergiftung durch verschmutzte Luft gestorben war?
Sie zog die Schublade noch weiter auf, in der Hoffnung, irgend etwas zu finden, womit sie den Leichnam identifizieren konnte. Ganz am Ende der Schublade fand sie es.
An dem großen Zeh des rechten Fußes war eine Karte angebracht. Katharine entfernte die Karte, steckte sie in ihre Tasche, schloß die Schublade und wollte gerade den Raum verlassen, als sie in der hinteren linken Ecke eine Tür bemerkte. Sie ging darauf zu und lauschte. Hinter der Tür hörte sie ein leises Summen. Nach kurzem Zögern drückte sie die Klinke herunter.
Die Tür war offen, und sie warf einen Blick in den angrenzenden Raum.
Sie erblickte irgendwelche Maschinen. Tanks von verschiedener Größe, die durch Schläuche und Röhren mit einem Haupttank verbunden zu sein schienen. Von dem Haupttank ging wiederum eine Reihe von Röhren aus, die durch zwei Wände liefen.
Dann entdeckte sie die Quelle des Summens: eine Pumpe neben dem Tank, die offenbar dessen Inhalt durch die Röhren beförderte.
An der rechten und an der Katharine gegenüberliegenden Wand befanden sich Türen. Sie ging schnell auf die am nächsten gelegene zu und versuchte sie zu öffnen.
Verschlossen.
Sie probierte es bei der anderen Tür, die ebenfalls verschlossen war.
Enttäuscht rüttelte sie am Türgriff. Sie suchte nach einem Kartenscanner, fand aber keinen. Sollte sie nach einem Schlüssel suchen? Was aber, wenn die Kameras sie beobachteten?
Nachdem sie sich noch einmal gegen die Tür gestemmt hatte, gab sie auf und ging in den Autopsieraum zurück. Sie wollte schon zum Fahrstuhl zurückkehren, um ihr Glück nicht weiter herauszufordern, doch als sie auf den Flur hinaustrat, zogen die geschlossenen Türen sie wie magnetisch an.
Sie ging nicht auf den Fahrstuhl zu, sondern wandte sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung. Nach zehn Metern kam sie an einer Tür vorbei, auf der zu lesen war:
Serinus-Projekt
Noch während sie das Schild betrachtete, wurde ihr klar, dass sie das Paßwort zu der geschützten Datei, das sie gestern nachmittag so frustriert hatte, nicht mehr brauchte. Entschlossen drehte sie den Türgriff, ohne zu hoffen, dass die Tür offen sein könnte.
Zu ihrer Überraschung war sie es. Offenbar hielt Takeo Yoshihara das Sicherheitssystem des Fahrstuhls für ausreichend, zumindest für diesen Teil seiner Anlage.
Sie betrat ein holzgetäfeltes Vorzimmer, das nur einen Schreibtisch und eine Glasvitrine enthielt. Als Katharine erkannte, was sich in der Vitrine befand, schlug ihr Herz schneller.
Der Schädel?
Konnte das derselbe Schädel sein, den sie in Robs Büro auf dem Monitor gesehen hatte? Katharine ging auf die Vitrine zu, eine viereckige Plexiglasbox auf einem schwarz lackiertem Podest. Während sie den Schädel von allen Seiten studierte, wuchs ihre Aufregung. Diesen Schädel hatte sie gesehen. Er musste es sein. Und er sah genauso aus wie der Schädel, den sie in der Felsspalte gefunden hatte, in allen Details. Sie suchte nach etwas, das seine Herkunft verriet. Schließlich fand sie ein kleines Schild, auf dem stand, dass der Schädel in einem Dorf auf den Philippinen gefunden worden war, und zwar erst vor zwei Monaten. Katharine prägte sich den Namen des Dorfes ein und betrachtete den Schädel noch einmal, bevor sie weiterging.