Katharine hatte keine Wahl mehr. Sie musste der Frau die Wahrheit sagen. »Seine Leiche befindet sich hier, Elaine«, sagte sie.
»Ich fürchte, es handelt sich um ein Mißverständnis«, sagte Elaine Reynolds nach einer Weile. »Marks Leichnam wurde eingeäschert.«
Eingeäschert? Was sollte das? Irrte sie sich? Sprach sie womöglich doch mit der falschen Frau? »Mrs. Reynolds«, sagte sie, unwillkürlich zu der formelleren Anrede zurückkehrend. »Darf ich Ihnen den Jungen, den ich heute gesehen habe, beschreiben?«
Nach einer längeren Pause murmelte Elaine Reynolds zustimmend. Katharine beschrieb das Gesicht, das sie in der Leichenhalle gesehen hatte, so nüchtern wie möglich. Als sie das Grübchen im Kinn des Jungen erwähnte, stöhnte die Frau am anderen Ende der Leitung auf.
»Warum?« flüsterte sie. »Warum sollten sie ihn dorthin gebracht haben? Und warum sollten sie mir erzählt haben, seine Leiche sei eingeäschert worden?«
»Ich wünschte, ich wüßte es«, sagte Katharine leise. »Aber ich fürchte, dass ich nicht viel mehr weiß als Sie.« Dann fügte sie hinzu: »Wie war das, als Sie auf Maui waren? Ist damals irgend etwas passiert? Irgend etwas Ungewöhnliches?«
»Nein«, seufzte Elaine. »Es war ein wunderbarer Ausflug. Bis auf das Tauchen, allerdings.«
Katharine spürte ein Frösteln. »Das Tauchen?« fragte sie.
»Mark ist mit ein paar anderen Jungen tauchen gegangen, und sie hatten Probleme mit ihren Sauerstoffflaschen. Einige Jungen mussten ganz schnell auftauchen, und es war wohl ziemlich knapp. Jedenfalls habe ich Mark danach nicht mehr mitgehen lassen. Und ich frage mich noch immer, ob das nicht der Anfang seiner Atemprobleme war.«
Bei dem letzten Satz zog sich der Knoten in Katharines Brust noch heftiger zusammen. An dem Abend, nachdem er tauchen gegangen war, hatte auch Michael Probleme mit der Atmung bekommen, und selbst gestern abend ...
Und dann fiel ihr Kioki ein. Was war mit ihm gewesen? Woran war er gestorben? Und Jeff Kina? War er wieder zu Hause? Oder war ihm das gleiche wie Kioki Santoya zugestoßen? Aber noch während sie darüber nachgrübelte, hörte sie die Stimme ihres Sohnes: Ach, komm schon, Mom. Sie wissen ja noch gar nicht, was mit Kioki passiert ist.
»Elaine?« sagte sie mit zitternder Stimme. »Was ist mit den anderen Jungen, die mit Ihrem Sohn tauchen waren? Kennen Sie die Namen? Oder wissen Sie, woher sie kamen?«
»Ich glaube nicht«, sagte Elaine. »Doch, warten Sie, da war ein Junge aus New Jersey, Shane, mit dem war Mark noch nach dem Tauchen zusammen. Einen Moment.« Es schien Katharine endlos zu dauern, bis Elaine sich wieder meldete. »Mark hatte es auf ein Stück Papier geschrieben und in seine Brieftasche gesteckt. Er heißt Shane Shelby und wohnt in Trenton, New Jersey.« Elaine las ihr Straße und Telefonnummer vor, und Katharine kritzelte sie auf die Rückseite der Karte, die sie von Mark Reynolds' Leiche entfernt hatte. »Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie etwas herausfinden?« fragte Elaine.
»Das werde ich tun«, versprach Katharine. »Bestimmt.«
Kaum hatte sie aufgelegt, wählte sie die Nummer, die Elaine Reynolds ihr gegeben hatte. Nach dem vierten Klingen hörte sie die Stimme eines Mannes.
»Keith Shelby.«
Katharine bemühte sich, ganz ruhig zu bleiben. »Mr. Shelby, mein Name ist Dr. Katharine Sundquist. Sind Sie der Vater eines Jungen namens Shane?«
Mehrere Augenblicke lang schlug ihr Stille aus dem Hörer entgegen, und Katharine befürchtete schon, dass der Mann aufgelegt hatte. Doch dann meldete er sich wieder. »Wer, sagten Sie, spricht dort?« fragte er mißtrauisch.
Katharine stellte sich noch einmal vor. »Ich weiß, es klingt seltsam, Mr. Shelby, aber ich muss wissen, ob es Ihrem Sohn gutgeht.«
Erneut ein langes Schweigen - noch länger als beim erstenmal -, und Katharine ahnte, was Mr. Shelby gleich sagen würde. Schließlich sagte sie es selbst: »Ihm ist etwas zugestoßen, nicht wahr, Mr. Shelby?«
»Er ist tot, Dr. Sundquist«, sagte Keith Shelby tief bedrückt. »Es war seine Lunge. Sie haben nie herausgefunden, was genau es war. Sie tippten auf einen neuen Virus oder so etwas. Ich verstehe nichts von solchen Sachen, aber sie haben mir gesagt, dass diese Viren andauernd mutieren. Wir glauben, dass er sich vielleicht auf dem Rückflug von Maui angesteckt hat. Danach ging es ihm nie mehr richtig gut.«
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, starrte Katharine wie betäubt aus dem Fenster.
Was um alles in der Welt ging hier vor?
Versteckten sie Shane Shelbys Leiche vielleicht auch irgendwo auf dem Anwesen?
Minutenlang starrte sie ins Leere. Ihre Gedanken verschwammen, zum Teil, weil sie in den letzten beiden Nächten so wenig geschlafen hatte, aber zum Teil auch, weil ihr die seltsamen und erschreckenden Informationen aus den Händen zu gleiten schienen, Teile eines Puzzles, das sie nicht zusammensetzen konnte.
Denk nach! befahl sie sich. Die Antworten sind hier, du musst sie nur finden.
Katharine schob Angst und Müdigkeit beiseite und machte sich an die Arbeit.
Das Handy in Takeo Yoshihara Jackentasche summte leise. Er verließ den Konferenzraum im Hotel Hana Maui, ging auf den Flur und hielt das Telefon ans Ohr. »Ja?« Er hörte eine Weile zu. »Und mit wem hat Dr. Sundquist telefoniert?« fragte er schließlich den Anrufer, der die Besprechung mit seinen Partnern beim Serinus-Projekt unterbrochen hatte.
Wenige Sekunden später in den Konferenzraum zurückgekehrt, dachte Takeo Yoshihara bereits darüber nach, wie er sich auf effizienteste Weise Katharine Sundquists entledigen konnte. Und ihres Sohnes.
Michael fühlte sich schon schlecht, als er am Morgen erwachte. Seine Brust war wie zugeschnürt, und sein ganzer Körper schmerzte. Er sagte seiner Mutter nichts, denn die hätte ihn nur wieder zu Dr. Jameson geschleppt. Ohne ein Wort ging er zum Schulbus, in der Hoffnung, dort Josh Malani zu treffen.
Doch er traf ihn nicht. Schließlich rief er bei ihm zu Hause an. Joshs Vater - er klang, als hätte er den Rausch vom vorigen Abend noch nicht ausgeschlafen - knurrte, dass Josh nicht zu Hause sei. Als Michael ihn fragte, ob er letzte Nacht überhaupt zu Hause gewesen sei, murmelte Sam Malani nur, ihm sei es völlig egal, wo Josh sich herumtreibe, und hängte auf. Während der Tag voranschritt, wuchsen Michaels Sorgen um Josh. Die Schmerzen in seiner Brust nahmen ebenfalls zu.
In der dritten Stunde wurde es so schlimm, dass er sich fragte, ob er nicht doch wieder einen Asthmaanfall bekommen würde. Er konnte kaum noch atmen. Der Versuch, die Beklemmung in der Brust durch Übungen in der Sporthalle zu lösen, half auch nicht.
Mittags versuchte ihn Rick Pieper davon zu überzeugen, dass er zur Krankenschwester gehen solle, aber Michael wusste, was dann passieren würde. Die Krankenschwester würde seine Mutter anrufen, und die würde ihn abholen und zu Dr. Jameson schleppen, der ihn mit Nadeln stechen und ihm in den Hals schauen würde.
Dann würde er sich noch schlechter fühlen als jetzt.
Nach dem Mittagessen schaffte er es kaum noch, die letzten beiden Stunden durchzustehen. Zum Glück waren die Fenster weit geöffnet, und Michael suchte sich einen Platz in der Nähe, um so viel frische Luft wie möglich in seine schmerzende Lunge zu atmen.
Als die Glocke läutete, tat seine Brust immer noch weh, und er fühlte sich schwach und benommen.
Vielleicht sollte er das Lauftraining lieber ausfallen lassen und nach Hause gehen.
Er verwarf den Gedanken jedoch sofort, als er sich an die alten Zeiten erinnerte. Vor zwei Jahren in New York war sein Asthma so schlimm gewesen, dass er sich manchmal ein Taxi genommen hatte, um die fünf Blocks von der Schule zur Wohnung nicht zu Fuß gehen zu müssen. Er hatte hart gearbeitet, um all das zu überwinden, und keine Lust, sich noch einmal von der Krankheit das Leben vermiesen zu lassen. Er wollte die Zähne zusammenbeißen, den Schmerz und die Schwäche ignorieren und sich auf der Bahn freilaufen. Er würde so lange laufen, bis der Schmerz verschwand oder er ihn zumindest nicht mehr spürte.