Während der Klang der Schulglocke verhallte, packte Michael zusammen mit den anderen Schülern seine Bücher ein und schob sich mit ihnen zur Tür hinaus. Als er auf den Gehweg vor dem Gebäude trat, musste er stehenbleiben und Atem holen, bevor er sich überhaupt zutraute, bis zu den Umkleideräumen zu kommen.
Er öffnete die Tür und betrat den Raum. Die Luft war feucht. Hier vermischte sich der Geruch von Schweiß, Seife, Desinfektionsmitteln und einem halben Dutzend anderer Chemikalien. Michael ging zu seinem Schließfach, öffnete es, zog sich aus und streifte seine Sportsachen über, die von seinen Übungen in der vierten Stunde noch feucht waren. Er suchte nach frischen Socken, da er die alten von heute morgen nicht wieder anziehen wollte. Sie rochen ziemlich muffig.
Sofort fühlte er sich etwas besser und lobte sich selbst, dass er der Versuchung widerstanden hatte, das Lauftraining zu schwänzen. Nachdem er sich umgezogen hatte, ging er zur Toilette.
Als er vor dem Urinbecken stand, stieg ihm ein anderer Geruch in die Nase. Instinktiv weitete Michael die Brust und sog ihn tief in seine Lunge. Die Schärfe des Geruchs machte ihn beinahe schwindelig, aber das beklemmende Gefühl in seiner Brust ließ nach, und er fühlte sich etwas weniger erschöpft.
Michael sah sich um und suchte die Quelle dieses Geruchs, aber er sah nur den Wandschrank, in dem Josh gestern die Ammoniakflasche gefunden hatte. Die Tür stand ein wenig auf. Als er fertig war, rückte er seine Hose zurecht und drückte auf den Wasserhebel. Dann ging er zu den Waschbecken neben dem Schrank. Der Geruch wurde stärker. Er trat zum Schrank und machte die Tür weit auf.
Die Putzmittel standen in ihren Regalen, so wie gestern. Es gab fast ein Dutzend Behälter, die alles mögliche enthielten, vom Fensterreiniger bis zum Scheuerpulver, vom Kloreiniger bis hin zu kräftigen Lösungsmitteln, mit denen man praktisch alles von den Schulwänden herunterbekam, ob Tapete, Fliesen oder Beton. Aber noch hatte er nicht herausgefunden, aus welcher Flasche der besondere Geruch strömte, den er in den letzten Minuten eingeatmet hatte.
Schließlich fiel sein Blick auf die Ammoniakflasche, die sich Josh an die Nase gehalten hatte. Ohne nachzudenken, nahm er sie in die Hand, schraubte sie auf und roch daran.
Der Geruch wurde stärker, und eine Hitzewelle lief durch seinen Körper.
Verwundert las Michael die Informationen auf dem Etikett. Der typische ätzende Ammoniakgeruch war nicht wahrzunehmen.
Auf dem Etikett standen nur die üblichen Warnungen vor dem Einatmen der Dämpfe.
Er wollte die Flasche schon wieder zuschrauben und zurückstellen, als er es sich noch einmal überlegte. Erneut hielt er sie an die Nase und roch daran, diesmal kräftiger. Die Wärme strömte durch seinen Körper und verursachte ein angenehmes Kitzeln.
Hatte Josh gestern das gleiche gespürt? Michael sah sich so verstohlen um, als wolle er sich einen Schuß Heroin in die Vene spritzen. Dann atmete er die Dämpfe ein, wieder und wieder. Mit jedem Atemzug spürte er, wie sein Körper an Stärke zurückgewann. Schmerzen und Erschöpfung verflogen. Er nahm ein paar weitere Züge und hielt die Flasche noch in der Hand, als die Tür zur Toilette zuschlug.
»Puh, was stinkt hier so?«
Michael schraubte die Flasche zu und kam aus dem Wandschrank heraus. Der Hausmeister stand vor ihm. »Jemand hat die Ammoniakflasche aufgelassen«, sagte er.
»Muss Joe gewesen sein«, sagte der Hausmeister so bestimmt, dass Michael den Eindruck hatte, als würde dieser Joe - wer immer er war - stets für alles verantwortlich gemacht, was im Bereich des Hausmeisters schiefging. »Junge, wie hältst du es hier nur aus?« Kopfschüttelnd riß der Mann die Türen auf, um den Raum zu lüften. Dann nahm er einige Reiniger aus den Regalen.
»Bis dann«, sagte Michael und ging in den Umkleideraum zurück. Der Hausmeister brummte etwas vor sich hin.
Zehn Minuten später erfüllten die Ammoniakdämpfe Michaels Körper noch immer mit einer Kraft, wie er sie nie zuvor gespürt hatte. Er lief seinen ersten Hundert-Meter-Sprint und überbot seine Bestzeit um fast drei Fünftel und den Schulrekord um achtunddreißig Hundertstel Sekunden.
KAPITEL 25
Die Glastüren zum Garten vor Robs Büro waren weit geöffnet, aber die Wände schienen Katharine dennoch zu erdrücken. Schon den ganzen Tag - seit sie am Morgen durch das Tor des Anwesens gefahren war - hatte sie das Gefühl nicht abschütteln können, dass sie beobachtet wurde. Mit jeder Stunde bildete sie sich heftiger ein, dass unsichtbare Augen sie überwachten, bis sie schließlich sogar den Gärtner verdächtigte, der nachmittags mit Rechen und Besen jedes einzelne Blatt entfernte, das auf den Rasen gefallen war. Sicherlich handelte es sich um einen Spion, der auf sie angesetzt worden war. Dass sie ihn nicht ein einziges Mal ertappte, wie er sie auch nur ansah, geschweige denn mit einer Minikamera Fotos machte oder ein Richtmikrofon - sie hatte davon gehört - in ihre Richtung hielt, konnte sie nicht vom Gegenteil überzeugen. Dabei hätte sie ein Richtmikrofon nicht einmal erkannt, wenn sie darüber gestolpert wäre. Aus Angst vor Wanzen brachte sie es nicht über sich zu telefonieren, und irgendwann hatte sie sogar ihr Telefongerät aufgeschraubt und dessen Innenleben nach einem winzigen Mikrofon durchsucht, das nicht hineingehörte. Schließlich hatte sie es aufgegeben.
Der Tag hatte sich endlos lange hingezogen, und wenn sie sich nicht gesagt hätte, dass es verdächtig wirken würde, wenn sie vorzeitig ginge, wäre sie unmittelbar nach ihren Gesprächen mit Elaine Reynolds und Keith Shelby geflohen.
Statt dessen war sie in Rob Silvers Büro geblieben, mit einer ausgewachsenen Paranoia. Sie hatte versucht, den Eindruck zu erwecken, als sei sie ganz in ihre Arbeit vertieft, die darin bestand, das Skelett von dem Fundort an der Fumarole zu identifizieren. Doch in den vergangenen drei Stunden hatte sie nur daran denken können, was sie im Labor des Serinus-Projekts gesehen hatte.
Und daran, was Rob gestern über die Kanarienvögel gesagt hatte, die man in die Minenschächte herunterließ. Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass die Tiere in den Plexiglaszellen genau diesem Zweck dienten. An ihnen wurde getestet, wieviel Gift in der Atmosphäre Sauerstoff atmende Wesen ertragen konnten.
Aber es gab noch eine andere Frage, die sie ängstigte.
Wenn man bedachte, was die Tiere einatmeten und in welchen Mengen, wieso konnten einige von ihnen überleben?
Am Nachmittag suchte sie im Internet Informationen darüber, wie sich die verschiedenen chemischen Substanzen, die in die Plexiglaszellen geleitet wurden, auf Tiere auswirkten. Die Ergebnisse waren eindeutig: Bei den Konzentrationen giftiger Gase, die sie auf den Monitoren abgelesen hatte, hätten alle diese Tiere tot sein müssen.
Aber sie waren nicht tot.
Die einzige Schlußfolgerung lautete, dass es bei dem Serinus-Projekt um weitaus mehr ging als um eine Studie zur Auswirkung von Luftverschmutzung auf verschiedene Lebensformen.
Offensichtlich wurden Experimente durchgeführt, um die Tiere gegen Gifte in der Atmosphäre resistent zu machen.
Sie dachte an das seltsame Objekt, das sie im letzten Raum gesehen hatte, und daran, was der Techniker gesagt hatte. »Ich dachte, ein neues Gesicht hat vielleicht eine neue Idee.«
Sie hatte nicht lange gebraucht, um dahinterzukommen, dass Takeo Yoshihara mit ihr das gleiche gemacht hatte wie mit den Mitarbeitern des Serinus-Projekts. Die Techniker in den Labors wussten nur so viel wie unbedingt nötig, um ihre Arbeit erledigen zu können, und offenbar hatte Takeo Yoshihara entschieden, dass sie über das Kugelobjekt oder seinen Inhalt nichts wissen sollten. Dennoch machte er keinerlei Anstalten, es zu verbergen.
Die Aufgabe der Techniker bestand wahrscheinlich darin, sich um die Tiere zu kümmern und zu überwachen, welche Mengen der Substanz aus der Kugel ihnen verabreicht wurden.