Die warme hawaiianische Abendluft schien mit einemmal kühler geworden zu sein. Katharine wurde klar, dass Rob recht hatte.
Sie ging zum Wagen, nahm Robs Handy und wählte die Nummer der Polizei. Sie gab ihre Nachricht durch und zögerte kurz, als man sie nach ihrem Namen fragte. Als sie die Verbindung unterbrach, zitterte sie am ganzen Körper.
Sie dachte nur noch an Michael - sie musste zurück zu Yoshiharas Anwesen und ihn dort rausholen.
Aber Yoshiharas Sicherheitsbeamte würden nicht zulassen, dass sie Michael einfach aus seinem Gefängnis holte und mitnahm. Und selbst wenn, was hatte sie damit erreicht? Er würde sterben, sobald sie ihn an die frische, saubere Luft brachte.
Einen Augenblick lang verzweifelte sie fast, weil alles so unmöglich schien, aber dann dachte sie an Michael in seinem Plexiglaskäfig, und ihre Frustration und Angst verwandelten sich in kalte Wut.
Noch lebte Michael. Bis jetzt hatte Takeo Yoshihara keine Ahnung, wieviel sie wusste.
Und die Nacht war noch nicht vorbei.
Sie hörte auf zu zittern, und die Kälte wich aus ihrem Körper. Mit dem Telefon in der Hand ging sie in den Laden zurück. Als sie Kens Leiche sah, spürte sie noch den gleichen Schrecken wie eben. Aber ein anderes Gefühl mischte sich in ihre Trauer.
Zorn.
»Was hast du gefunden?« fragte sie Rob.
»Nicht sehr viel«, antwortete er. Er hatte sich im Hinterzimmer des Ladens umgesehen, jedoch nichts berührt und auch den vorderen Teil nicht betreten. »Hier ist eigentlich nur die Tauchausrüstung, die ausgeliehen werden kann.«
»Was ist das?« fragte Katharine und deutete auf eine große weiße Tafel an der Wand, auf der Daten, Uhrzeiten und Namen standen.
»Das sind die Tauchtermine«, sagte Rob und warf zum erstenmal einen genaueren Blick auf die Tafel. »Er hat sie immer ...« Überrascht sah er auf die Termine und hätte fast mit dem Finger auf eines der Felder getippt, zog ihn jedoch rasch zurück. »Du meine Güte! Sieh dir das an!«
Katharine trat neben ihn. »Was denn?«
»Hier!« Er deutete noch einmal auf die Stelle. »Er hatte ein VIP-Tauchen an dem Morgen, nachdem Michael und seine Freunde zum Nachttauchen gefahren waren.«
Katharine sah ihn an. »VIP-Tauchen? Was soll das sein? Mit Filmstars?«
Rob schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das war nur sein persönlicher Code. Ab und zu rief Yoshiharas Büro an und verabredete Tauchtermine für die Kinder von Geschäftspartnern.«
»Ich verstehe noch immer nicht.«
»Yoshihara hat nicht nur die Termine arrangiert«, sagte Rob. »Er hat auch seine eigene Ausrüstung schicken lassen, Flossen, Masken, Mundstücke, alles.«
»Inklusive Sauerstoffflaschen«, flüsterte Katharine. Sie begann zu verstehen.
Rob nickte. »Wenn die Jungen die Flaschen genommen haben, die für die Gruppe vom nächsten Morgen schon hier stand ...«, setzte er an, aber Katharine hatte bereits ihr Notizbuch herausgeholt und schrieb die Namen der Jungen vom Brett ab, die für den Tauchgang eingetragen worden waren, den Ken Richter mit dem Kürzel VIP bezeichnet hatte.
Wenn Michael und seine Freunde nicht gewesen wären, dann wären vier dieser Jungen dem Schicksal, das Takeo Yoshihara für sie geplant hatte, nicht entgangen.
Der fünfte war vielleicht schon tot.
Sie hatte das Notizbuch kaum wieder in ihre Tasche gesteckt, als draußen im Dunkeln die erste Polizeisirene heulte.
KAPITEL 30
»Und wenn er es nicht kann?« fragte Katharine. Sie fuhren die Lipoa Street hinauf zum Computercenter. In den fünfzehn Minuten, seit sie den Tauchladen verlassen hatten, hatte Rob zwei Leute angerufen. Al Kalama hatte sich gemeldet, Nick Grieco nicht. Einer schrecklichen Ahnung folgend, hatte Rob beschlossen, bei Nicks Apartment vorbeizuschauen. Die drei Polizeiwagen vor seinem Haus schienen seine schlimmsten Ahnungen zu bestätigen.
»Ich glaube, wir haben jetzt keine Wahl mehr«, sagte Rob düster. »Du kannst Michael nicht länger auf Yoshiharas Anwesen allein lassen, und Phil Howell und ich brauchen jemanden, der uns bei der Suche hilft. Wir brauchen einen Experten. Wir brauchen Al.«
»Aber du hast gesagt, er sei Tauchführer«, sagte Katharine.
»Und Computerfreak. Wenn er nicht gerade taucht, tummelt er sich im Internet. Falls er die Informationen, die wir brauchen, nicht findet, gibt es sie nicht.«
»Warum hat er denn keinen Job, wenn er ein solches Genie ist?«
Rob sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Komm schon, Kath, wir sind hier auf Maui. Ist dir noch nicht aufgefallen, wie viele Jobs nur dazu da sind, die Miete und die Sportausrüstung zu finanzieren? Außerdem hatte Al vor ein paar Jahren mal ein kleineres Problem. Es hatte irgendwas mit einem Regierungscomputer zu tun, in den er sich ohne Erlaubnis eingeklinkt hat. So wie er es erzählt, ist er nur deshalb nicht ins Gefängnis gewandert, weil niemand zugeben wollte, dass das, was er getan hatte, überhaupt möglich war. Und es ist schwer, jemanden wegen eines Verbrechens zu verurteilen, wenn man nicht zugeben will, dass es begangen wurde.«
Die Ampel am Piilani Highway wechselte auf Grün. Als Rob aufs Gaspedal trat, ertönte hinter ihm eine Hupe, und ein alter Honda Civic schoß an ihnen vorbei. Die eingebeulte Beifahrertür war mit einem zerschlissenem Seil zugebunden, und auf dem Dach war ein Surfbrett befestigt. »He Mann, hör auf, mit dieser Schrottkiste die Straße zu blockieren!« Der Fahrer streckte seine Hand aus dem Fahrerfenster und wackelte mit Daumen und kleinem Finger.
Katharines Hoffnungen sanken. »Das ist Al Kalama, nicht wahr?« fragte sie.
»Glaub mir, er ist kein Spinner«, behauptete Rob, aber ein schneller Seitenblick belehrte ihn, dass Katharine ihm nicht glaubte. Ein paar Sekunden später hielt Rob neben dem Honda an.
Al Kalama lehnte bereits an seinem Wagen. Er trug lediglich Shorts und Sandalen und grinste sie breit an. »Wieso die Eile, Mann? Du klangst am Telefon, als wäre jemand gestorben oder so.«
Rob Silver sah den gealterten Strandjungen ernst an. »Ken Richter ist tot, und wir nehmen an, dass Nick Grieco ebenfalls tot ist.«
Kalamas Grinsen erstarb, und er hörte zu, als sie ihm von ihrer Entdeckung im Tauchladen und von den Polizeiautos vor Griecos Wohnung erzählten. Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Was, zum Teufel, geht da vor?«
»Um das herauszukriegen, brauchen wir dich«, sagte Rob. Er reichte Kalama die Namensliste, die Katharine von dem Terminbrett in Ken Richters Laden abgeschrieben hatte. »Wir müssen herausfinden, wo diese fünf Jungen sind oder zumindest, ob sie noch leben.«
Al Kalama sah sie überrascht an. »Ich war vor ein paar Tagen mit diesen Jungen tauchen«, sagte er.
Rob sah Katharine an. »Bist du sicher?«
»Klar bin ich sicher! Ich erinnere mich an die Kids, weil die meisten von ihnen Arschlöcher waren. Außerdem hatte einer von ihnen Probleme mit seiner Sauerstoffflasche, was wirklich seltsam war, weil Takeo Yoshihara brandneue Ausrüstung in den Laden geschickt hatte.«