Die Worte trafen Katharine wie Nägel, die man in einen Sarg schlägt.
Michaels Sarg.
Bis zu diesem Augenblick hatte sie sich immer noch an die Hoffnung geklammert, wie vage sie auch sein mochte, dass Michaels Erkrankung auf einem Zufall beruhte, wie Takeo Yoshihara behauptet hatte. »Der Junge, der Probleme mit seiner Flasche hatte«, sagte sie mit zitternder Stimme, »können Sie herausfinden, ob er noch lebt? Ist er noch auf der Insel?«
Kalama zuckte mit den Schultern. »Das ist ein Klacks. Alle Kids, mit denen ich tauchen war, sind entweder an diesem Nachmittag oder am nächsten Morgen abgereist. Dieser Junge kam aus Chicago, und wenn er in der Zwischenzeit gestorben ist, dann müsste bestimmt was davon in den Lokalzeitungen stehen.«
»Kriegen Sie es raus«, bat Katharine. »Bitte.« Sie wandte sich an Rob. »Ich muss zurück. Ich muss Michael da rausholen.« Sie wollte sich ans Steuer des Explorers setzen, aber Rob hielt sie auf.
»Katharine, bist du verrückt? Wie willst du ihn da rausholen? Und selbst wenn du es schaffst, wohin willst du ihn bringen? Außerhalb der Box kann er nicht atmen, das weißt du doch.«
Katharine wischte den Einwand beiseite. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich werde schon einen Weg finden. Mein Gott, Rob, verstehst du denn nicht? Takeo Yoshihara will ihn gar nicht am Leben erhalten. Er will nur herausfinden, wie Michael und seine Freunde mit dem Zeug in Berührung gekommen sind, und sowie er das weiß, tötet er ihn!« Noch während sie sprach, tauchten neue Fragen vor ihr auf.
Was, wenn sie gar nicht mehr auf das Gelände gelassen wurde?
Was, wenn Michael schon ...
Sie weigerte sich, auch nur die Möglichkeit in Betracht ziehen. »Versuche alles herauszufinden, was du kannst«, sagte sie zu Rob. »Finde heraus, was in diesen Dateien ist. Finde heraus, was sie da wirklich machen!« Sie legte ihre Arme um ihn und drückte ihn kurz an sich. Dann ließ sie ihn los und stieg in den Explorer. Als sie eben davonfahren wollte, holte Rob sein Handy hervor und reichte es ihr durchs offene Fenster.
»Nimm das mit«, sagte er. »Ich habe das Gefühl, dass wir bald miteinander reden müssen.«
»Aber wenn ich dein Handy habe ...«, begann Katharine.
Rob unterbrach sie. »Ich besorge mir ein anderes. Phil Howell hat eins. Sein Wagen steht noch hier, also ist er sicher auch noch in der Nähe. Ich ruf dich an und geb' dir die Nummer, sobald ich es habe.«
Katharine fuhr zurück zum Piilani Highway, und Rob und Al Kalama eilten ins Computercenter.
Weniger als eine Minute darauf saß Al vor dem Terminal neben dem Computer, an dem Phil arbeitete. Al wartete kaum ab, bis Rob ihn Phil vorgestellt hatte. Noch bevor ein Bild auf dem Monitor erschien, flogen seine Finger über die Tastatur.
Während sich Kalama durch das Internet navigierte, wandte sich Rob an Phil Howell. »Ich muss mir mal dein Handy ausleihen, Phil«, sagte er. Als er keine Antwort bekam, warf er einen Blick auf den Monitor, vor dem der Astronom saß. Die Ergebnisse des Programms, das er gestartet hatte, wurden endlich angezeigt. Der Bildschirm zeigte ein neues Fenster, in dem eine Liste der vierundzwanzig Dateien zu sehen war, die der Computer produziert hatte. Jede dieser Dateien enthielt die Resultate einer von vierundzwanzig Ersetzungsgleichungen, die man auf die Originalsequenz von vier Buchstaben anwenden konnte.
Neben jeder Datei wurde angezeigt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass die Buchstabensequenz den DNS-Code repräsentierte.
Die vierte Datei von unten war markiert. Daneben stand: 79%.
Rob runzelte die Stirn. »Bedeutet es das, was ich glaube?« fragte er Howell.
Der Astronom nickte. Als sich das Fenster geöffnet und er die vierte Reihe von unten gelesen hatte, war ihm ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen. Seine Stimme zitterte vor Erregung. »Ich glaube schon. Zumindest glaubt es der Computer.« Langsam schüttelte er den Kopf, als könne er nicht wirklich glauben, was er da sah. »Mein Gott«, flüsterte er. »Was ist, wenn es tatsächlich stimmt?«
»Wenn was stimmt?« fragte Al Kalama von seinem Terminal, aber Phil hatte sich bereits wieder so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er die Frage gar nicht mitbekam. Noch bevor Al sie wiederholen konnte, öffnete sich auf seinem eigenen Bildschirm ein Fenster. Es enthielt einen Zeitungsausschnitt aus der Chicago Tribune - eine Meldung über den Tod eines gewissen Kevin O'Connor. Der sechzehnjährige Junge sei an nicht näher beschriebenen »Atemproblemen« gestorben.
»Willst du mir nicht sagen, was hier abgeht?« fragte er Rob.
Rob, der fasziniert Phils Bildschirm beobachtet hatte, wandte sich wieder Al zu. »Takeo Yoshihara führt Menschenversuche durch«, sagte er ohne Einleitung. »Ka-tharines Sohn ist einer von denen, mit denen er experimentiert.«
Al Kalama stieß einen leisen Pfiff aus, aber er stellte keine weiteren Fragen. Statt dessen sagte er nur: »Wie können wir das Schwein aufs Kreuz legen?«
»Es gibt ein Verzeichnis im Computer auf seinem Anwesen«, sagte Rob. »Darin sind die Dateien gespeichert, von denen Katharine sprach, bevor sie losfuhr. Wir glauben, dass diese Dateien alle Informationen über das Projekt enthalten.«
»Was ist mit dem Jungen?« fragte Al Kalama. »Was können wir für ihn tun?«
Darauf wusste Rob keine Antwort.
Da er wusste, dass er Phil Howell nicht mit der Frage nach so etwas Trivialem wie einem Handy von seinem Monitor loseisen konnte, suchte er selbst danach, und als er es gefunden hatte - in der rechten Brusttasche von Howells Hemd -, bemerkte der Astronom nicht einmal, dass Rob es herauszog.
»Kath?« sagte er einen Moment später, nachdem er seine eigene Nummer gewählt hatte. »Es sieht aus, als hättest du recht. Sei vorsichtig.« Er gab ihr die Nummer des Telefons durch, das er sich gerade angeeignet hatte, und beendete das Gespräch.
Noch immer wusste er nicht, wie man Michael Sundquist helfen konnte.
Katharine wurde verfolgt.
Sie wusste es so sicher wie ihren eigenen Namen.
Die Scheinwerfer waren angegangen, als sie in Puunene links abgebogen war. Im Rückspiegel hatte sie beobachtet, dass der Wagen hinter ihr blieb, auch als sie scharf rechts in die Hanson Road abbog, die Abkürzung zum Hana Highway.
Woher hatten die gewusst, dass sie hier vorbeikommen würde?
Wurde ihr Wagen angezapft?
Natürlich wurde er das - die Vorrichtung, mit der sich das Tor automatisch öffnen ließ, sendete zweifellos ein Signal aus, das Takeo Yoshiharas Männer orten konnten.
Sie spielte mit dem Gedanken, von der Hanson Road abzufahren und eine der schmalen Straßen durch die Zuckerrohrfelder nach Kula zu nehmen. Aber obwohl sie schon abgebremst hatte, entschied sie sich im letzten Augenblick anders, als sie die enge Straße sah, die in der Finsternis verschwand.
Eine Finsternis, die ihr düsterer erschien als sonst.
Wenn sie eine dieser Straßen nahm und sich verfuhr, konnte sie sicherlich eine Stunde in Kula oder Pukalani herumirren, bevor sie den Weg nach Makawao fand. Schlimmer noch, wenn der Wagen, der sie verfolgte, sie überholte und von der Straße drängte ...
Sie schüttelte die Vorstellung ab und sagte sich, dass sie wieder an Paranoia litt, aber im gleichen Augenblick tauchte - unerwartet und unaufhaltsam - das Bild von Ken Richter vor ihr auf, der in der riesigen Blutlache lag, und die Angst, die sich den ganzen Tag über in ihr aufgebaut hatte, schlug wieder zu. Wenn sie nicht gezögert hatten, Ken Richter zu erschießen, warum sollten sie dann zögern, sie selbst zu töten?
Als der Wagen hinter ihr hupte und dann an ihr vorbei in die Nacht brauste, zuckte sie so heftig zusammen, dass ihr der Sicherheitsgurt in die Schulter schnitt.
Das reicht! schalt sie sich. Wenn du dich nicht beruhigst, hast du keine Chance, Michael zu retten.