Der Lift hatte die Hälfte seines Weges zurückgelegt, als sie ein entferntes Klingeln hörten. Alarm.
Als sich die Türen auf der oberen Ebene wieder öffneten, dröhnte das schrille Läuten der Alarmglocke in ihren Ohren. Katharine sah auf die Uhr.
Noch zehn Minuten.
»Also los«, sagte sie zu Michael.
Sie rannten durch den Flur, auf die Doppeltüren am anderen Ende zu. Den aufgeblasenen Müllbeutel schleifte sie unbeholfen hinter sich her. Michael blieb einmal kurz stehen und nahm einen tiefen Zug aus dem zweiten Beutel. Als sie die Türen zur Lobby erreichte, hatte er sie wieder eingeholt.
Sie stieß die Türen auf.
In der Empfangshalle schrillten die Alarmglocken noch lauter, doch niemand war zu sehen.
»Nach draußen«, sagte sie.
Sie liefen zur Eingangstür und standen Sekunden später auf dem Rasen vor dem Haus. Niemand schien sie zu verfolgen, und eine Sekunde lang wagte Katharine zu hoffen, dass ihnen die Flucht glücken würde. Doch dann wischte ein greller weißer Scheinwerfer die Dunkelheit einfach weg.
Wie zwei aufgespießte Insekten duckten sich Katharine und Michael vor dem weißen Licht.
Dann übertönte ein anderes Geräusch das Schrillen der Sirenen.
Das vertraute satte Geräusch der Rotorblätter eines Hubschraubers.
Sie beschirmte ihre Augen mit der Hand und schaute nach oben. Plötzlich erlosch der Scheinwerfer, und sie sah, wie der Hubschrauber zur Landung ansetzte, kaum zwanzig Meter von ihnen entfernt.
Yoshihara, dachte sie entsetzt.
Dann schalteten sich alle Lichter auf dem Anwesen ein, und in diesem Augenblick erkannte sie, wer in dem Helikopter saß.
Rob Silver.
Sie packte Michael an der Hand, lief mit ihm und dem Müllbeutel auf den schwankenden Helikopter zu und schob ihren Sohn hinein.
Sie hörte, wie die Maschine des Hubschraubers aufbrüllte, als Rob sie mit starken Händen packte und in die Kabine zog.
Noch bevor sie ganz drinnen war, ging der Hubschrauber wieder hoch, wendete und schoß zurück in die Dunkelheit.
Von der Terrasse vor seinem Schlafzimmer aus beobachtete Takeo Yoshihara, wie der Helikopter in der Nacht verschwand. Dann sprach er in das Telefon, das er in der Hand hielt, seit ihn der Alarm aus dem Schlaf gerissen hatte.
»Orten Sie den Hubschrauber auf dem Radar«, befahl er. »Finden Sie heraus, wohin sie fliegen. Wir werden sie zurückholen, haben Sie verstanden? Sowohl die Mutter als auch den Sohn.« Bevor er die Verbindung beendete, fügte er hinzu: »Wenn wir losgehen, möchte ich einen Wachmann dabei haben, der als Scharfschütze ausgebildet ist.«
KAPITEL 33
Die Kopfhörer, die Rob Katharine über den Kopf stülpte, nachdem er sie in den Hubschrauber gezogen hatte, dämpften das Brüllen des Motors ein wenig. Aber sie verstand nur, dass er etwas zu ihr sagte, die Worte selbst gingen in dem Lärm unter. Der Hubschrauber raste davon und vollzog so scharfe Wendemanöver, dass Katharine fast schlecht wurde. Als sie schließlich wagte, etwas zu sagen, musste sie schreien, obwohl das Mikrofon dicht vor ihrem Mund hing.
»Ich sagte, wie lange brauchen wir noch bis zur Großen Insel?«
Rob wollte gerade antworten, als der Pilot plötzlich am Steuerknüppel riß und der Hubschrauber ruckartig nach Backbord ausbrach und dicht an einem Kliff vorbeiflog. Danach fiel er erst einmal nach unten, bevor der Pilot ihn wieder stabilisierte. Sie begannen zu steigen, bis sie schließlich über dem Kliff nach Westen abbogen.
»Vielleicht vierzig Minuten«, antwortete Rob.
Vierzig Minuten? Aber Rob hatte gesagt, dass Michael nur für etwa zehn oder fünfzehn Minuten Luft brauchte. Und auch wenn eine der Plastiktüten noch voll war - sie selbst hielt den Verschluß fest zu, damit kein Gas entwich, bevor Michael es brauchte -, der Beutel, den Michael aus dem Forschungs-pavillon getragen hatte, war bereits halb leer. Er würde es nie schaffen! Doch bevor sie etwas sagen konnte, meldete sich Michael zu Wort.
»Ich werde versuchen, zwischendurch normale Luft zu atmen«, rief er in sein Mikrofon. »Vielleicht kann ich so an den Gasen sparen.«
Katharine nickte heftig und rief: »Rede nur nicht, sonst verbrauchst du noch mehr!«
Michael hielt den Daumen hoch. Sie sah, wie er noch einen Zug aus dem Müllbeutel nahm, und dann die Luft in der Kabine einatmete.
Eine Sekunde lang keimte Hoffnung in Katharine auf, doch dann begann Michael zu husten, und sie sah, welche Schmerzen er litt. Sofort vergrub er sein Gesicht wieder in der Öffnung des Beutels, und nachdem er das Gas ein paarmal tief eingeatmet hatte, hörte er auf zu husten.
Der Beutel war jedoch noch weiter in sich zusammengefallen. Als Katharine auf ihre Uhr sah, stellt sie fest, dass sie erst seit drei Minuten in der Luft waren.
Wenn es so weiterging, würden beide Beutel leer sein, bevor sie auch nur die Hälfte der Strecke zurückgelegt hätten. »Was sollen wir nur tun?« fragte sie verzweifelt. Michael durfte nicht sterben. Sie wollten ihn doch retten, nicht umbringen.
»Keine Sorge!« rief Rob über den Rotorenlärm hinweg. »Wir sind bestimmt da, bevor er sie geleert hat.«
Katharine schaute durch die Plexiglaskuppel in die Finsternis. Ihre Flugroute führte sie an der Bergflanke vorbei. Der Pilot flog niedrig, fast den Boden streichelnd. Die Regenwälder um das Anwesen herum hatten dem sattem Weideland oberhalb von Makawao und Pukalani Platz gemacht. Vorne und backbord sah Katharine ein paar Lichter, die zu Kula gehören mussten. In der Ferne lagen die Lichter von Kihei und Wailea aufgereiht wie eine Perlenschnur an der Maalaea Bay.
Nach Süden hin erstreckte sich ein riesiges, dunkles Gebiet, das nur von den Lichtern der Makena-Surfanlage und des Maui Prince Hotel erhellt wurden. Ein Dutzend schimmernder Punkte markierten die Häuser am Strand bis zu der Stelle, wo der Strand abrupt am Lavastrom endete. Unter dem Hubschrauber verwandelte sich die Landschaft jetzt erneut, das Weideland wich rauhem Farmland, das die Seeseite von Haleakala prägte. Selbst im Licht der Sterne erkannte sie die dichten Büsche der stacheligen Birnenkakteen und die dürren Kiawe-Bäume, die den größten Teil der Vegetation in diesem Landstrich ausmachten.
Sie sah zu Michael hinüber. Die erste der beiden Tüten war fast völlig geleert, aber während er sich langsam von der Aufregung der Flucht erholte, normalisierte sich auch seine Atmung - wie die ihre - wieder, und das in dem Beutel verbliebene Gas reichte weitaus länger, als Katharine für möglich gehalten hatte. Trotzdem war der Beutel leer, bevor sie die Küste überflogen hatten und den breiten Kanal überquerten, der Maui von der Großen Insel trennt.
Als Michael zum zweiten Beutel griff, merkte Katharine, dass sie nicht direkt auf die Große Insel zuflogen, sondern sich noch immer nach Südwesten bewegten. In der Dunkelheit erkannte sie die Umrisse einer kleinen Insel, die gegen den Nachthimmel hervortrat. Aber es gab keine einzige kleine Insel zwischen Maui und Hawaii. Ein Blick auf den Kompaß bestätigte ihren Verdacht, und während sie nach einem vernünftigen Grund suchte, warum sie in die falsche Richtung flogen, ergriff neue Furcht Besitz von ihr.
Warum hatte Rob ihr versichert, dass Michael nicht länger als eine Viertelstunde Luft brauchte?
Während der Hubschrauber noch immer in einem Neunzig-Grad-Winkel von dem einzigen Ort wegflog, an dem ihr Sohn überleben konnte, dämmerte ihr eine schreckliche Wahrheit.
Rob arbeitete immer noch für Takeo Yoshihara. Aber nicht nur das, er hatte sie - und Michael - in eine Falle gelockt.
Was sollte sie jetzt tun? Sollte sie versuchen, den Hubschrauber unter ihre Kontrolle zu bringen? Sie verwarf die Idee augenblicklich. Vielleicht kam es in Filmen vor, dass jemand, der noch nie einen Hubschrauber geflogen hatte, einfach zum Steuerknüppel griff. Im wirklichen Leben war das unmöglich.